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Von Stadthagen bis Limmer (18.9.2004)

Von Stadthagen bis Limmer

 Vor etwa dreihundert Jahren hielt in der alten Vorgängerkirche des heutigen Gotteshauses zu Limmer der damalige Pastor Jacobus Sackmann eine Predigt, die er mit folgenden Worten begann:

“Da stehe ich nun wieder vor euch, um Gottes Werk zu verkündigen und zu eurem Seelenheil anzuwenden, wat die Hauptsake is. Lesen könnt ji alle, dat junge Volk vörup, weil ich und der Schulmeister use leiwe Not mit juen heinebeuken Köppen ehat hebbet. Gott sei Dank, es sind wenige unter euch, dei dat leiwe Gottesword nich sau gladde weglesen könnt, … un dat Bauk ower Kopps holen dauet wie en Professer in der rökerigen Köken. … Dei könnt sick denn trösten,  … Gott nimmt ok midde Baukstaweiren vörleip.“ In Hochdeutsch: “Der kann sich damit trösten, der nicht lesen kann: Gott nimmt auch Buchstabieren an.“

 Sackmann war eine der schillerndsten Predigerpersönlichkeiten Norddeutschlands, dessen Kanzelreden sich durch treffliche, manchmal überzogene und spitze, auch humorvolle Formulierungen sowie durch einen spontanen Wechsel in des vertraute Plattdeutsch auszeichneten. Seinem Namen begegnen wir in seiner Gemeinde noch auf Schritt und Tritt, aber nicht nur hier; seine “unziemlichen hoch- und niederdeutschen Predigten“ werden bis heute nachgedruckt. Und einer der in den zitierten Sätzen erwähnte Schulmeister war ein Peithmann. Der plattdeutsche Text deutet auf ein einträchtiges Miteinander unter den beiden selbsternannten Leidensgenossen aus Kirche und Schule in der Gemeinde hin. In Wirklichkeit hätte  das  Verhältnis  zwischen  dem Prediger Sackmann und seinem Kantor Peithmann nicht gespannter sein können. Sie ließen kaum eine Gelegenheit aus, sich gegenseitig das Leben schwer zu machen. Von einem Aufsehen erregenden Ereignis, bei dem beide sogar einmal an einem Strang zogen, ist ebenso zu berichten.

 Doch zuvor verfolgen wir die Spuren, die Familienangehörige Peithmann aus dem angestammten Stadthagen in den Raum Hannover führten. Wir stoßen auf sie in dem 1930 erschienenen Buch  von Max Burchardt, Das Stadtarchiv von Stadthagen als Quelle der Bevölkerungsgeschichte. Diesem auch für die Peit(h)mann-Familienforschung grundlegende Werk sind Nachfahrentafeln aller bedeutsamen Stadthäger Familien beigefügt. Eine ist Hermann Peithmann gewidmet, dem ersten lutherischen Pastor aus unseren Familien, der im ersten Viertel des 17. Jahrhunderts in (Bad) Nenndorf wirkte. Wir kennen die Namen von sechs seiner Kinder. Für das dritte, den Sohn Anthon Dietrich Peithmann, ist auf der Tafel der Wohnort Lauenau und mit Fragezeichen der Zusatz “(dann) Schulmeister in Luthe“ vermerkt. Der Ort Luthe liegt gleich nordwestlich von Limmer jenseits der Autobahn. Für den Peit(h)mann-Familienforscher ist es eine Aufforderung, einem solchen Hinweis nachzugehen.

 Und so lade ich euch ein, heute mit mir gemeinsam diese Fährte aufzunehmen.  Familienforschung ist ein spannendes Abenteuer, vor allem, wenn sie – wie in unserem Fall – in einen noch unbekannten Zweig vorstößt.  Oder  treffen  wir  doch  auf  längst bekannte Namen? Schließlich kann  auch der Familienast, auf dem wir sicher zu stehen meinen, ins Wanken geraten: Sind Pastor Hermann in Nenndorf und Kämmerer Dietrich in Stadthagen tatsächlich Vater und Großvater eines Luther Schulmeisters namens Anthon Dietrich Peithmann?

 Schulmeister in Luthe – Da führt unsere erste Forschungsreise in das Archiv der Kirchengemeinde Luthe bei Wunstorf. In den Kirchenbüchern werden wir rasch fündig. In Luthe wirkte tatsächlich ein Schulmeister mit dem Namen Anton Peithmann. Er ließ 1666 bis 1678 sechs Kinder taufen. Es scheint so, daß wir aufgrund eines kleinen Hinweises in der ortsgeschichtlichen Literatur Stadthagens mit dem Umblättern weniger Kirchenbuchseiten die Peit(h)mann-Stammtafeln um eine ganze Familie erweitern können.

 In der Familienforschung ist die Datenerhebung im Archiv nur der erste Schritt, dem oft erst zu Hause das Abgleichen mit bisherigen Befunden und das Einfügen in das Tafelwerk folgen. Dabei bemerken wir, daß die Ergebnisse aus Luthe mit Jahreszahlen und Lebensumständen der angenommenen Verwandten doch nicht zu passen scheinen. Wenn der Nenndorfer Pastor Hermann, der 1626 starb, tatsächlich der Vater des Luther Schulmeisters Anton gewesen wäre, dann hätte dieser erst mindestens 52 Jahre nach seines Vaters Tod – in Wirklichkeit wohl viele Jahre  später,  also  im  Alter  von  etwa 80 Jahren – sein letztes Kind taufen lassen. Das ist biologisch durchaus möglich, für einen Schulmeister in damaliger Zeit jedoch undenkbar.

 Hier sei angemerkt, daß in der über 600jährigen Familiengeschichte das höchste Alter, in dem ein Peit(h)mann nachweislich Vater wurde, 72 Jahre war. Es betraf Andreas Peithmann in Hessisch Oldendorf im Jahre 1692. Dieser Rekord steht nunmehr 312 Jahre; da scheint die Zeit reif, ihn einzustellen, möchte man schmunzelnd feststellen.

 Anthon Peithmann in Luthe erreichte gar nicht das biblische Alter. So wird aus Zweifel Gewißheit: Dieser Schulmeister kann gar nicht, wie in dem Werk über das Bürgerbuch in Stadthagen angegeben, mit dem Sohn Anton Dietrich des Nenndorfer Pastors Hermann Peithmann identisch sein. Übrigens kommt auch der Zweitname Dietrich, der auf Pastor Hermanns Vater, Kämmerer Dietrich Peithmann in Stadthagen hinweist, für Anton Peithmann im Luther Kirchenbuch nicht vor.

 Das Ergebnis dieser Überprüfung: Uns hat sich eine weitere Forschungslücke geöffnet. Woher kommt der neu entdeckte Luther Schulmeister Anton Peithmann?

Bei dem zunächst in Lauenau lebenden  Hermann-Sohn Anton Dietrich handelt es sich vermutlich um den später in Wathlingen bei Celle wirkenden Schulmeister Anthon Dietrich Peithmann, der 1686 starb. In der Folge 1 “Aus der Chronik der Familien Peit(h)mann“ haben wir ihn vorgestellt.

 Anton – Lässt man den Rintelner Professor Anton Peitmann (1593 – 1649) als Brun-Nachfahre unberücksichtigt, so suchen wir diesen Vornamen in den Peit(h)mann-Familien früherer Jahrhunderte vergeblich. Der Name selbst liefert also keine Anhaltspunkte für eine genealogische Zuordnung. In einem solchen eher aussichtslosen Fall kann eine bewährte Methode doch noch zum Ziel führen: die Patenforschung. Sie macht sich den früheren Gebrauch zunutze, Kindern den oder die Namen von Paten zu geben. So kann man von den Namen der Kinder auf Onkel und Tante, mitunter auch auf Großvater und Großmutter schließen und umgekehrt – vorausgesetzt, der Familienforscher unterzieht sich der Mühe, bei den oft 10 – 12 Kindern eines Ehepaares auch die Namen und Wohnorte der jeweils zwei bis vier Paten festzuhalten.

 Und so merken wir uns die Namen der sechs Kinder des Luther Schulmeisters Anton Peithmann und deren Paten. Die Kinder heißen Ilse Maria, Johann Heinrich, Emerentia, Bernhard, Hans Lorenz und Anna Maria. Eine Signalfunktion für unser Forschungsvorhaben kommt den damals in unseren Familien nicht gebräuchlichen Männernamen Bernhard und Lorenz zu. Würden wir diesen in Verbindung mit unserem Nachnamen prüfen, wären verwandtschaftliche Beziehungen mit Anton Peithmann zu prüfen. Doch fast anderthalb Jahrzehnte vergehen, ohne daß wir in Kirchenbüchern, in Archiven oder in der genealogischen Literatur fündig werden.

 Inzwischen haben wir uns auch auf eine andere Spur eingelassen, die anderthalb Jahrhunderte vor der geschilderten falschen Fährte von Stadthagen nach Hannover führt. Auf sie hat uns ebenfalls das Bürgerbuch von Stadthagen gebracht.

 Aus unserer frühesten Familiengeschichte rufen wir in Erinnerung: Arndt Poyteman, der gemeinsame Stammvater aller Peit(h)mann, hatte vier Söhne: Brun und Tomas, 1510 und 1511 Bürger in Stadthagen und Ahnherren der Peit(h)mann mit und ohne h, sowie Evert und Hans, 1512 und 1518 Bürger und dann Schuhmacher in Hannover. Haben diese beiden Brüder dort auch familiär Fuß gefasst und Nachfahren hinterlassen?

  Peit(h)mann-Forschung in Hannover – das bedeutet: Für die ersten Jahrhunderte stehen auch hier Kirchenbücher noch nicht zur Verfügung; zudem muß dem auswärtigen Forscher die Quellenlage in der Großstadt unübersichtlich und verwirrend erscheinen. Ich nenne nur einige Archivalien, die vollständig durchzusehen sind: Bürgerbücher der Altstadt Hannover, Kirchenbücher von Marktkirche, Kreuzkirche und Aegidienkirche, Läutegeldregister, Schoß-, d.h. Steuerregister, Testamente im Stadtarchiv, Leichenpredig ten, dann Sekundärquellen wie z.B. die “Hannoversche   Chronik“,     die    Leonhardtsche     Personenkartei,  die Stammtafeln zum St. Annen-Lehen. Schließlich ist auch die immense stadtgeschichtliche Literatur zu berücksichtigen, die ich hier nicht einmal in Auswahl vorstellen kann. Kopien der Peit(h)mann betreffenden Texte aus mehr als einem Dutzend familien- und bevölkerungsgeschichtlicher Bücher und Beiträge in Hannover sind inzwischen Bestandteil des Peit(h)mann-Archivs.

 Angesichts dieser hohen Hürden sind wir gut beraten, uns der Zuarbeit eines ausgewiesenen Fachmannes zu vergewissern, der sich wie kein anderer in der Genealogie Hannovers auskennt, mit dem Leiter des Stadtarchivs von Hannover, gleichzeitig Sekretär des Niedersächsischen Landesvereins für Familienkunde: Helmut Zimmermann. Die Frucht dieser Zusammenarbeit: Aus der Zeit von 1512 bis 1731, also aus nicht ganz 220 Jahren werden uns die in alten Akten festgehaltenen Peit(h)mann-Namen aus Hannover wohl vollständig dargeboten. Sie betreffen gut 50 Personen. Auch Helmut Zimmermanns Buch über Jacobus Sackmann ist uns eine ergiebige Quelle. Nun gilt es, diese Namen in einen genealogischen Zusammenhang zu bringen. Das ist aufgrund der für viele Namensträger nur sparsamen Informationen lediglich bei einem Teil zweifelsfrei möglich. Für eine Reihe von Personen lassen sich verwandtschaftliche Verbindungen vermuten; ein kleiner Teil ist gar nicht zuzuordnen.

Das Ergebnis: Der Versuch einer Stammtafel des Zweiges Hannover mit sieben  Generationen,  die  dem  Familienverband  Peit(h)mann  heute  zum ersten Mal in Kurzform vorgelegt wird. Im Gegensatz zu den Übersichten der von Brun und Tomas ausgehenden Nachfahren ist diese Darstellung der von Evert begründeten Linie noch mit vielen Fragezeichen behaftet. Die Tafel soll hier nicht ausführlich erläutert und nicht jeder Namensträger vorgestellt werden. Hingewiesen sei lediglich auf die aus Stadthagen mitgebrachte Schuhmachertradition, die sich in Hannover wohl über vier Generationen hinweg erstreckte.

 In der dritten Generation wird als ältester Sohn “Evert“ genannt. Dabei handelt es sich um den “Eberhard“, der nach seinem Studium in Helmstedt und Rostock von 1591 bis zu seinem Tode im Jahre 1607 theologischer Lehrer in Eutin war und dem wir in Folge 1 “Aus der Chronik der Familien Peit(h)mann“ ein ausführliches Lebensbild gewidmet haben.

 Peit(h)mann in Hannover bietet viele Ansätze zu weiterer Forschung. Hier zwei Beispiele für Personen, die wir bislang nicht einordnen können. Laut Bürgerbuch heiratete vor 1602 ein Peter Peitmann Margarete Reiche aus Hille, der 1608 im Läutegeldregister der Kreuzkirche in der Altstadt aufgeführt wird.

 Die Kopfsteuerbeschreibung der Alt- und Neustadt von Hannover im Jahre 1689 nennt einen „Lehrknaben“ Christian Peitmann beim Schneidermeister Jürgen Steffenhagen; dieser ist Inquiline, also Einmieter, im Hause von Lorenz Hansemann in der Leinstraße. Christian tritt an keiner Stelle mehr in  Erscheinung. Zudem  waren  die  Namen  Peter und  Christian in frühen Peit(h)mann-Familien nicht gebräuchlich.

 Viele Male begegnen wir dem Namen “Hans“ Peit(h)mann, ohne immer erkennen zu können, ob es sich um identische oder verschiedene Personen handelt.

 Der Leser der Tafel wird vor allem entdecken: Die im Zusammenhang mit dem Schulmeister in Luthe gesuchten Namensträger mit den Vornamen Anton, Lorenz, und Bernhard finden wir hier in Hannover. Darüber hinaus: Die Lebensdaten für Anton Peithmann in Luthe fügen sich gut in die Tafel von Peit(h)mann in Hannover ein. Für Lorenz Peithmann in der 4. Generation werden vier Kinder angegeben, das jüngste mit dem Namen Tönnies. Da drängt sich die Vermutung auf, hierbei könne es sich um den eingangs aufgeführten Luther Schulmeister Anton handeln, der 1639 geboren wurde. Sein Vater starb schon “vor 1640“ wohl im mittleren Alter. So darf man annehmen, daß dieser Anton tatsächlich sein letztes Kind war.

 Die Familie dieses Anton Peithmann in Luthe führt uns ein Kapitel Sozialgeschichte früherer Jahrhunderte eindringlich vor Augen, in denen es kaum oder gar keine staatlichen Sicherungssysteme gab. Geriet jemand in Not – etwa durch Krankheit oder Tod eines Angehörigen – so mußte er die Hilfe von Familienmitgliedern, von Nachbarn, in Gutsdörfern auch von der sogenannten Herrschaft in Anspruch nehmen. Schulmeister, als Zugereiste in der Regel  ohne tragende Bindungen im Dorf, waren oft auf sich allein gestellt.  Fiel gar  der  Ernährer  der  Familie ganz aus, bedeutete das häufig genug einen sozialen und finanziellen Absturz für die Hinterbliebenen. Genau das durchlitt die Peithmann-Familie in Luthe. Mehr noch: Sie brach auseinander, mit all den Härten, für jedes einzelne Mitglied.

 Anton Peithmann hatte 1665 im Alter von 26 Jahren Ilsabe Wilhelms, eine Tochter des Bürgers und Maurermeisters Curd Wilhelms aus Neustadt am Rübenberge geheiratet. Nur gut anderthalb Jahrzehnte konnte er seinen Schuldienst in Luthe versehen, bis ihn ein plötzlicher Tod ereilte.

 In der zweiten Novemberwoche des Jahres 1680 hielt sich Anton in Hannover wohl bei Verwandten auf. Im Luther Kirchenbuch lesen wir: Dort sei er “zu Boden gefallen, daran sei er gestorben“. Nach dem Text hatte er nicht etwa erst einen Schlaganfall erlitten, sondern er starb durch den Sturz. Die Todesursache ist also ein Unfall, dessen Umstände im Dunkeln bleiben. Anton wurde in Luthe beigesetzt. Er erreichte ein Alter von nur 41 Jahren.

 Zurück ließ er seine Frau mit vier noch unversorgten Kindern. Das älteste, Ilse Maria, und das zweitjüngste, Hans Lorenz, waren im Alter von gut und knapp einem Jahr an den Blattern und an Brustkrämpfen gestorben.

 Das schwere Los einer Witwe hätte die Lehrersfrau zu keinem unglücklicheren Zeitpunkt treffen können. Sie stand mittellos da und mußte sich und die verbliebenen Kinder durchbringen. Im Grunde blieb ihr eine Lösung: eine neue Ehe eingehen. Aber der standen ihr Alter von knapp 40 Jahren  und  ihre vier Kinder entgegen. In  jener Zeit kam für eine weibliche Person nur eine Beschäftigung – etwa im Haushalt – in Frage, die sie von morgens früh bis abends spät mit ganzer Hingabe forderte und keinerlei Freiraum und Kraft für die Versorgung eigener Kinder ließ. So war sie gezwungen, das zu tun, was einer Mutter eigentlich das Herz bricht; sie mußte ihre Kinder abgeben in andere Familien – ihrer selbst und ihrer Kinder wegen. Johann Heinrich war 12, Emerentia 11, Bernhard 7 und Anna Maria 2 Jahre alt, als der Vater starb.

 Ob und wie die Mutter Ilsabe Peithmann diesen Schmerz überstanden hat, verraten die Akten nicht.

 1689, neun Jahre nach dem Tod des Vaters, erfahren wir aus einer Steuerliste über den Verbleib der Kinder. Der Älteste, Johann Heinrich, war zusammen mit seiner Schwester Emerentia untergekommen bei dem sogenannten Mittelkötner Cord Beecken in Luthe, also einem Kleinbauern, der 4,5 Morgen Land und 1 Morgen Wiese bewirtschaftete. Auf dem Hof lebten mit der sechsköpfigen Bauernfamilie insgesamt 16 Menschen, darunter der 21jährige sogenannte Häusling Johann Heinrich Peithmann, der mit der um fünf Jahre älteren Margarete Hoffmann aus Idensen bereits verheiratet war, und die 20jährige Schwester Emerentia Peithmann, die als “Tochter“, also als Haustochter, aufgeführt wird.

 Der 16jährige Sohn Bernhard Peithmann hatte Aufnahme gefunden in der Familie  des  Steuereinnehmers  Julius  Lütke  in  der  Stadt  Wunstorf,  die neben den drei eigenen Kindern und einer Magd noch drei weitere Kinder und Waisenkinder im Alter zwischen 7 und 15 Jahren versorgte.

 Die elfjährige Anna Maria Peithmann finden wir in der Familie des Luther Kleinkötners Cord Ehlers unter der Bezeichnung Kindermagd; d.h. selbst noch ein Kind , stand sie schon im Dienst einer Kleinbauernfamilie.

 Alle diese Angaben entnehmen wir der sogenannten “Kopfsteuerbeschreibung der Fürstentümer Calenberg-Göttingen und Grubenhagen von 1689“, die 1960 veröffentlicht und als Kopie dem Peithmann-Archiv zugefügt wurde. Darin ist das Alter auch für die Peithmann-Kinder größtenteils herabgesetzt. Das hatte einen plausiblen Grund: Die Kopfsteuer wurde nach dem Alter berechnet. Steuerhinterziehung nennt man das heute. Selbst Steuerverwalter schreckten davor nicht zurück. Julius Lütke machte seinen Pflegesohn Bernhard Peithmann ein Jahr jünger, um in eine günstigere Steuerklasse zu kommen.

 Bis auf die von Bernhard Peithmann haben sich die Spuren der Kinder des Luther Schulmeisters Anton Peithmann verloren. Obwohl Halbwaise, konnte Bernhard in die Fußstapfen seines Vaters treten und Lehrer werden. Dieser berufliche Werdegang mag im Zusammenhang stehen mit der Aufgeschlossenheit und den finanziellen Möglichkeiten seiner städtischen Pflegefamilie.

 Und es handelt sich genau um diesen Bernhard Peithmann, der – wie eingangs  geschildert –  hier  in  Limmer  als Schulmeister und Kantor unter und mit dem Prediger Jacobus Sackmann seinen Dienst versah.

Mit dem Lehramt in Limmer war – wie in vielen Kirchorten üblich – der Küsterdienst in der Kirche verbunden. Das Wort Küster hat bis in die Gegenwart eine Bedeutungsverengung auf äußere Verrichtungen als Kirchendiener erfahren. Damals war ein Küster auch Meßner, Helfer im Gottesdienst, Kantor, Lektor. Vermutlich übte auch der Schulmeister in Limmer noch ein häusliches Handwerk aus, damit er seine Familie ernähren konnte.

  Nachdem Peithmanns Vorgänger Johann Saalbiel im Mai 1696 gestorben war, kam es zum Streit über das Präsentationsrecht des Klosters Marienwerder für die Küsterstelle in Limmer. Dahinter stecken Berufungskompetenzen  im Zusammenhang mit der Doppelfunktion des Amtes. War das Vorschlagsrecht eines Klosters für die kirchliche Küsterstelle wohl unstrittig, so gab es Bedenken für die weltliche Schulmeisterstelle, auch wenn diese damals der Dienstaufsicht des Pastors als örtlicher Schulinspektor unterstand. Daher schlugen die Geheimen Räte des Hofes in Hannover vor, die Küster- und Schulmeisterstelle wieder zu trennen. Als Begründung wiesen sie auch darauf hin, daß “die eingepfarrte Gemeinde wegen derer dem Schuldienst die Küsterey-Verrichtungen öfters entstehende Abhaltungen lieber sehen solle, daß beyde Dienste wieder separiert werden,  zumahlen  die Wohnungen  für  beyde  daselbst noch vorhanden.“

 Mit anderen Worten: Der Küsterdienst halte den Schulmeister oft vom Schuldienst ab.

Ob die beiden Ämter in “Schule und Küsterey zu Limmer“ tatsächlich getrennt wurden, ist aus den Akten nicht ersichtlich. Überlieferte Berichte Bernhard Peithmanns sprechen dagegen. So schreibt dieser, er sei am 1. September 1696 “von dem H(errn) General-Superintendenten zu Wunstorff, H(errn) Doctor Policarpo Lysero, introduciret, also eingeführt, aber von dem gantzen Convent des Klosters Marienwerder praesentiret“, d.h. vorgeschlagen. Schließlich bezog sich seine Zusammenstellung der Einkünfte von Dezember 1711 sowohl auf das Küster- als auch auf das Schulmeisteramt. Unter diesem Datum gab Bernhard Peithmann ebenso an, daß Eltern ihm zu bestimmten Zeiten Naturalien zu liefern hatten: “9 Schinken, 3 Schultern, 2 Rippen, 11 Mettwürste und 25 Brodt; und ein jeglicher Meyer gibt in der Osterwoche 8 Eyer, Halbmeyer 6, ein Köter 4, Heußlinge geben nichts; die Eyer bringen ohngefähr 16 Stiege“. 1 Stiege sind 20 Stück. Zudem mußten die Eltern der Schulkinder Schulgeld zahlen.

Das kleine Schulhaus stand auf dem Kirchhof neben der Nicolai-Kirche. Es war 27 Fuß lang und 16 Fuß breit; das entspricht heutigen Maßen von 8,5 und 4,75 m. In dem Häuschen befand sich außer der Schulstube die Wohnung für die ganze Familie des Schulmeisters. Bernhard Peithmann war verheiratet mit der um ein Jahr älteren Anna Catharina Wortmann, die ihm in der Zeit  von 1699 bis 1711 vier Kinder gebar.

 Der 23jährige Bernhard Peithmann trat 1696 sein Amt in Limmer an, nachdem der 30 Jahre ältere Pastor Sackmann bereits 16 Jahre in dieser Gemeinde gewirkt hatte. Vorher war er Prediger in Lauenförde und Regimentspastor gewesen. 22 der 35 Dienstjahre Bernhard Peithmanns fielen in die Amtszeit des Pastors Sackmann, bis dieser im Alter von 75 Jahren starb.

 Von Sackmann sind vier sogenannte echte und sieben unechte Predigten überliefert. Es handelt sich um Originale oder Nachschriften aus verschiedenen Quellen und aus unterschiedlichen Zeiten – Predigten, über deren Detailechtheit in Fachkreisen durchaus gestritten wird, ohne daß wir diese Problematik hier aufgreifen. Es sind weniger normale Gottesdienstpredigten als viel mehr Gelegenheitsansprachen zu Begräbnissen, Taufen und Hochzeiten.

 In ihnen zeichnet sich Jacobus Sackmanns unnachahmlicher Stil aus durch häufige Alliteration, d.h. Gleichheit des Anfangs aufeinanderfolgender Wörter, formelhafte Wendungen, volkstümliche Wortwahl, Kraftausdrücke und Scheltworte sowie politische Anspielungen. Ein Beispiel ist die berühmte Kraterpredigt. Hier ein Auszug:

“….Darum seid klug wie die Schlangen, doch ohne Falsch wie die Tauben, denn man kann sehr leicht zu Schaden kommen! As ek noch Candidat was, moste ek met´n grooten vörneemen Minschen up Reisen gaan. Wy keimen tolest  na  Neapel.  By   düsse  Stadt   liggt´n   hoogen  Barg, den  nennt  se Vesuvium. Dahenup steegen wy. Aber wanne! wanne! Wat harr´ dei vör´n groot Muul! Se heiten in ööre Spraake: Krater. Was geschah, meine geliebten Zuhörer, als wir an diesen Krater traten? Een näsewysen Engelländer dei ook metgaan was, tratt to dicht henan un – Pardauz! was he wege. So soll es meiner lieben Gemeinde in Limmer nicht gehen. Ihr seid mit Kraters umgeben, wenn ihr auch nicht bei dem Vesuvio wohnet, sondern bei dem ehrlichen (Berg) Deister. Wat ek damet meent heff, dat will ek Jük seggen: Da sünt eerstens dei Auto-Kraters, dat sünt dei slimmsten von allen; waart Jük davör! – denn kaamt dei Aristo-Kraters, dei dögen ook nich alltoveel; – den drüdden Slag nennt se Dämo-Kraters, dat sünt Glattsnakker; wenn se baaven up kaamt, sünt se just so as de annern. Hütet Euch also, meine geliebten Mitchristen, daß ihr nicht von einem dieser Kraters verschlungen werdet.“

 Auch wenn die Zeit der parlamentarischen Demokratie noch in weiter Ferne lag und “Demokraten“ eher ein Schimpfwort war, sei darauf hingewiesen, daß Sackmann “Dämo-Kraters“ mit “ä“ schrieb, also das Bestimmungswort „Dämon“ verwendete. Dennoch: Er spielte gerne mit Worten doppeldeutigen Inhalts.

 Sackmanns Biografen heben hervor, daß seine Pfarrertätigkeit zunächst im normalen Rahmen verlief. Erst als er sich mit seinen Predigten stärker in das Familienleben seiner Gemeindeglieder, ja auch des Hofes in Hannover, und  in  die Handwerkergilden einmischte, fühlten sich Menschen beleidigt. Und genau diese Periode fiel in die Amtszeit Bernhard Peithmanns. Auch er und die anderen “owerklauken Schaulmester“ in seinem Kirchspiel bekamen ihr Fett weg. So äußerte er sich ironisch über ihre Kommentare zu seinen Predigten: “Wat dei Schaulmesters um Limmer herumme bi eener Pipe Tobak in de Dinge herum ekatjet und herinter eschaustert hebbet van öören heinebeuken Infällen, dat is gar nich midde blinnen Groschens tau betalen.“ In Hochdeutsch: “Wie die überklugen Schulmeister von Limmer und Umgebung bei einer Pfeife Tabak die Dinge entstellt und was sie in sie hineingeschustert haben, das ist gar nicht mit Gold zu bezahlen.“

Vor allem für den Hof in Hannover peinliche Äußerungen führten dazu, daß Sackmann 1710 vor die kirchliche Behörde in Wunstorf zitiert wurde. Doch die guten Beziehungen zu den Patronatsherren seiner Kirchengemeinde schützten ihn vor Disziplinarmaßnahmen.

 Sackmann war über Limmer hinaus, auch in Hannover, in aller Munde. So erschienen zu den sonntäglichen Gottesdiensten in Limmer auch zahlreiche Besucher aus der Stadt. Sie trieb nicht Gottes Wort in die Nicolai-Kirche, sondern Neugier und Sensation. Das hatte Sackmann längst erkannt. Er ersann einen Plan, diesem Übel ein Ende zu bereiten – auf seine Art und Weise. Dazu brauchte er seinen Küster – Bernhard Peithmann.

 Eines Sonntags war der Zulauf aus Hannover besonders groß. Jetzt war für Sackmann der Zeitpunkt gekommen, diesen Sensationshungrigen einen gehörigen   Denkzettel   zu  verpassen.  Schnell   benachrichtigte  er  seinen Küster und beauftragte ihn, eine Lesepredigt zu halten. Sackmann übergab Peithmann einen außerordentlich langen Predigttext, wählte die längsten Gesänge und Gebete aus. Als alle Gottesdienstbesucher Platz genommen hatten, ließ er auch noch die Türen abschließen, damit niemand vor Beendigung des langen Gottesdienstes die Kirche verlassen konnte.

 Welch eine Enttäuschung für die sensationshungrigen Hannoveraner, als anstatt des Pastors Sackmann nur der Küster Peithmann vor den Altar trat und auf die Kanzel stieg. Sie hatten sich extra auf den Weg gemacht, um sich zu vergnügen, um die neuesten Scherze über den Prediger in Limmer mit nach Hause zu bringen und im Freundeskreis erzählen zu können. So warteten sie jetzt nur auf den Schluß der Kanzelrede. Doch die zog sich endlos hin. Die Langeweile wandelte sich in Mißbehagen und Wut. Da stand der erste Gottesdienstbesucher auf und ging eiligen Schrittes auf den Ausgang zu. Unverrichteter Dinge kam er zurück und setzte sich wieder still in die Kirchenbank. Erst nach weiteren vergeblichen Fluchtversuchen wurde allen klar, daß sie eingesperrt waren. Aber wer wollte schon während einer Predigt, beim Singen oder Beten seinen Unmut äußern? Es half nichts, die Ewigkeit im Kirchengestühl mußte ausgehalten werden.

 Als Peithmann dann endlich das Amen sprach und die Stunde der Befreiung schlug, gelobten die Neugierigen von außerhalb, nie wieder die Limmersche Kirche zu betreten. Und genau das wollte Jacob Sackmann ja erreichen. Als er 1718 starb, verblieben Bernhard Peithmann noch 13 Jahre seiner Lehrtätigkeit in Limmer. Doch es war um ihn einsam geworden. Keines seiner vier Kinder lebte mehr. Catharina Margarethe war 16, Hans Friedrich Wilhelm 7, Maria Magdalene nur 4 und Sophie Dorothea 7 Jahre alt geworden. Seine Frau verließ ihn 1724 im Alter von 52 Jahren. Er folgte ihr 1731 mit 58 Jahren in den Tod.

Bernhard war der letzte Angehörige der frühen hannoverschen Peithmann-Familien. So erlosch mit ihm einer der drei alten Peit(h)mann-Äste.

 273 Jahre liegt dieses Ereignis bereits zurück; das ist eine längere Zeit, als sieben Generationen Peithmann in Hannover überhaupt ausmachen. Dennoch durften wir vielen der Familienangehörigen heute begegnen, etliche ein Stück ihres Lebensweges begleiten, ihre Verwandten und Weggefährten kennenlernen – so wie die alten Akten über sie Auskunft geben – und wir konnten trotz der zu schildernden Not hier und da auch ein wenig schmunzeln.

Wilhelm-Meier-Peithmann