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„So lang mich trägt die schöne Erde…“ (23.9.2006)

„So lang mich trägt die schöne Erde …“  

Leben und Werk des Dichterarztes Dr. Heinrich Peitmann 1875-1954 

In der 25jährigen Geschichte des Familienverbandes Peit(h)mann ist es eine feste Tradition geworden, in Abständen von einigen Jahren den Familientag in Stadthagen, dem ersten bekannten Wohnplatz unserer Vorfahren, zu begehen. In der altehrwürdigen und doch so pulsierenden Stadt zieht es uns an diesem Tag auch immer wieder zu den überkommenen

Peit(h)mann-Stätten. Darin mögen wir dem Beispiel derer folgen, die in den Jahrhunderten zuvor als Söhne und Töchter einmal von hier fortgezogen waren und als Gäste zurückkehrten. Einer von ihnen war der Chefarzt Dr. Heinrich Peitmann in Dortmund-Hörde. Vor dem Elternhaus in der Niedernstraße verweilen, schauen und sich erinnern –  vor der alten Bäckerei Peitmann, die nun fremde Menschen mit ihrem Leben erfüllten -, das war für ihn eine lieb gewordene Übung, die ihm Bilder aus längst vergangenen Zeiten vor Augen führte und das Band zu den Vorvätern festigte, aber auch frohgemut den Blick auf das Heute richtete, die schließlich Gedanken des Dichterarztes in Verse setzte: 
  

                                Vor dem Vaterhaus 

                       Lässt ein gut´ Geschick bisweilen

                       Mich der Heimat Wege gehn,

                       Vor dem Vaterhause

                       Bleib´ ich lange sinnend stehn. 

                       Zeit, die eil´ge Zauberhexe,

                       Nagerin und Schöpferin,

                       Hat dein Antlitz längst gewandelt,

                       Streute Runen her und hin: 

                      Neu der First und neu die Türen,

                      Neu die Fenster licht und weit  –

                      So schaust du mit frischen Augen

                      In den Umbruch uns´rer Zeit; 

                      Aber innen grundgefüget

                      Wuchtet schwer der Eichenbau,

                      Manch´ Jahrhundert überdauernd,

                      Pfosten, Balken altersgrau! 

                      Und den Ahnherrn seh´ ich schreiten

                      In der Sippe stolzem Flor

                      Aus dem Hause Schattendunkel

                      Frohgemut durchs neue Tor.  – 

                      Altes Haus, du mahnst mich mächtig,

                      Willst mir Lehr´ und Beispiel sein;

                      Zwiefach sei der Mensch gegründet

                      In des Volkes Blutsverein: 

                      Gutem Altem treu verbunden,

                      Wurzelecht und von Bestand  –

                      Gutem Neuen aufgeschlossen,

                      Tatbereit mit Herz und Hand. 

                      Land und Volk mögt ihr nützen

                      So  –  mir altem Hause gleich  –

                      Vaterlandes beste Stützen,

                      Bester Schutz ist unser Land! 

In diesem Gedicht wird für Heinrich Peitmann das Vaterhaus zum Symbol; es ist ein Gebäude mit uralten Ständern, ein Gebäude aber auch mit neuer Fassade. So steht das Vaterhaus für Geschichte und Gegenwart  –  eine Geschichte und eine Gegenwart mit Platz sowohl für die eigenen Vorfahren als auch für die heutigen Hausbewohner.  Beiden ist er auf jeweils eigene Weise verbunden, den einen mit Zuneigung und Ehrerbietung, den anderen mit abgerückter Achtung –  verbunden diesen durch Überlieferungen aus der Familie und Erinnerungen an das  Elternhaus,  jenen durch rücksichtsvolle Anteilnahme und respektvolles Walten-lassen der nun familienfremden Menschen auf der alten Peitmann-Wohnstätte und der nachgewachsenen Generation in seiner Vaterstadt, verbunden allen mit Rat und Tat für das Gemeinwohl. 

Diesem Dr. Heinrich Peitmann nachzuspüren, bedeutet somit zugleich, ein gewichtiges Kapitel lebendiger Peit(h)mann-Familiengeschichte aufzuschlagen, bedeutet ebenso, einen kenntnisreichen  Stadthäger Heimatforscher und Freund der niederdeutschen Sprache zu Wort kommen zu lassen, sich der Gedankenwelt eines feinsinnigen Poeten zu öffnen und nicht zuletzt einen überaus erfolgreichen Mediziner aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kennenzulernen. 

      *** 
 

Heinrich Georg Peitmann wurde am 8. Juni 1875 als drittes von fünf Kindern des Bäckermeisters und Senators Wilhelm Daniel Ludwig Peitmann und seiner Frau Elise Sophie Kathinka geb. Wollenweber im Hause Niedernstraße Nr. 35 in Stadthagen geboren. Wie seine beiden älteren Brüder Georg und Wilhelm besuchte er zunächst die Höhere Bürgerschule in Stadthagen, danach für drei Jahre das Fürstliche Gymnasium Adolfinum in Bückeburg, wo er zusammen mit Bruder Wilhelm in einem Pensionat wohnte. Nachdem er stets Klassenerster gewesen war, bestand er 1892 im Alter von 17 Jahren das Abitur. Für das Sommersemester 1893 schrieb er sich in der Medizinischen Fakultät der Universität Jena ein. Zum Wintersemester 1893 wechselte er zur Universität Marburg, wo er der Landsmannschaft „Hasso-Guestfalia“ beitrat und damit eine Tradition begründete, der Jahrzehnte später auch Sohn Heiner als Jura- und Neffe Heinz als Medizinstudent in dieser Stadt folgten. Nach weiteren Studienjahren in Berlin und München promovierte er 1897, also mit 22 Jahren, über ein spezielles Thema aus dem Bereich der Darmpathologie. 

Zu Beginn der beruflichen Laufbahn standen ausgedehnte Reisen als Schiffsarzt und Assistentenjahre am Augusta-Hospital in Bochum bei  dem Chirurgen Prof. von Bardeleben und dem namhaften Gynäkologen Dr. Everke. Am 1. Oktober 1902, noch 26 Jahre alt, nahm er als Chirurg und Frauenarzt seine Tätigkeit am damals kleinen Krankenhaus „Bethanien“ in Hörde, heute Stadtteil von Dortmund, auf. Dr. Peitmann leitete dann das Haus „Bethanien“  bis Ende Februar 1943. 

                                                                                                            *** 

Chefarzt schon mit 27 Jahren – das erscheint heute undenkbar. In jener Zeit von etwa 1895 bis 1910  entstand erst ein flächendeckendes Netz von Krankenhäusern mit Chefarztpositionen. Viele dieser Einrichtungen entwickelten sich im Zusammenhang mit dem Aufbau chirurgischer Stationen. Es gab einen großen Bedarf an Chefärzten, vor allem an Chirurgen. Da es jedoch an Fachärzten mit operativer Sondererfahrung mangelte, bekamen oft befähigte junge Mediziner eine Chance. So ist zu erklären, dass für die Leitung des Krankenhauses inHörde neben Dr. Peitmann kein weiterer Arzt in Erwägung gezogen wurde. 

Als Heinrich Peitmann in dieses Amt berufen wurde, war das alte „Bethanien“ noch eine bescheidene Einrichtung mit kleiner Bettenzahl, in den Augen der Hörder Bürger eher ein

Pflegehaus. Mit hoher fachlicher Kompetenz und organisatorischem Geschick setzte er sogleich nach seinem Amtsantritt den Plan um, aus der  Anstalt  ein modernes Krankenhaus zu machen.  Der erste Schritt dazu war ein neues größeres, den Anforderungen von anspruchsvoller  Medizin und Pflege entsprechendes Gebäude, wofür der Grundstein auf sein Drängen schon im nächsten Jahr gelegt wurde. Dank des guten Einvernehmens mit dem Vorsitzenden des Krankenhaus-Kuratoriums, Pfarrer Bartels, konnte dieser Neubau 1904/1905 zügig errichtet werden, dem 1913 und 1927 Erweiterungsbauten folgten. Mit starker Willens- und Gestaltungskraft, stets verbunden mit Weitblick und Umsicht, baute der junge Arzt sein Krankenhaus organisatorisch und fachlich aus. Der gute Ruf Dr.Peitmanns als Chefarzt, Chirurg und Gynäkologe verhalf „Bethanien“ schon bald zu hohem Ansehen weit über die Region hinaus. 

Peitmanns chirurgisches Können sprach sich bald herum und brachte ihm einen großen Patientenkreis in Nah und Fern ein. Vor allem als geschickter Gallenoperateur machte er sich einen Namen. In Fachvorträgen vermittelte er Kollegen seine Erfahrungen. Besonderes Aufsehen erregte eine bis dahin kaum gelungene Operation am offenen Herzen, die er bereits im  Januar 1905 ausführte: Einem durch Messerstecherei schwer verletzten Patienten rettete er in einem wagemutigen Eingriff mit einer Herznaht das Leben.

Wurde sowohl in der medizinischen Fachpresse als auch in Tageszeitungen – gegen den ausdrücklichen Willen Heinrich Peitmanns – schon damals darüber ausführlich berichtet, so widmete er erst dreieinhalb Jahrzehnte später diesem Thema eine eigene wissenschaftliche Abhandlung. Die „Münchener Medizinische Wochenschrift“ brachte 1939 seinen Beitrag „Über

Arbeitsfähigkeit nach Herznaht“. Darin stellt seine damalige Operation in den Rahmen der Entwicklung der Herzchirurgie. Ganz selten sei über Spätresultate von Herznaht berichtet worden, insbesondere fehlten Angaben über spätere Arbeitsfähigkeit. Gerade das gabt Dr. Peitmann den Anlass für seine nachträgliche Veröffentlichung.  

Unter Weglassung aller medizinischen und chirurgischen Einzelheiten sowie der Fachausdrücke folgt hier ein Auszug aus der Schilderung des Krankheitsverlaufs:

„H. Wilhelm, 20 Jahre, wird am 29.1.1905 abends 9 Uhr eingeliefert. Kranker ist bewusstlos, Herzdämpfung nach allen Richtungen verbreitert, aus einer 2 cm langen Stichöffnung über der Herzspitze quillt wenig Blut, Puls an Hals und Aorta nicht zu fühlen, Gesicht bläulich-blass verfärbt, nur stöhnendes irreguläres Atmen. Die nicht unerfahrene Oberin hält den Kranken für fast tot. Da die Diagnose gesichert erscheint, trotzdem Operation.“ Und nun folgt eine ins Einzelne gehende Darstellung des manuellen Eingriffs bis zur Wiederkehr des Pulses. Dann fährt Peitmann fort: „Die ganze Operation wurde völlig ohne Narkose ausgeführt. Verletzter kommt nach 2 Stunden zum Bewusstsein und erholt sich weiter.“ Auch wenn vom komplizierten Heilverlauf und der Verabreichung nicht unbedenklicher Gaben von Morphium wegen enormer Schmerzen die Rede ist, so heißt es: „Er wurde am 11.4.1905 als geheilt entlassen.“ 

Dr. Peitmann untersuchte seinen Patienten dann in Abständen weiter, der jahrelang als Bergarbeiter und Hüttenwerker tätig war, heiratete, in einer Grenzschutztruppe am ersten Weltkrieg teilnahm und schließlich Anstreicher und Anstreichermeister wurde. Gesundheitliche Probleme, wie Ohnmachtsanfälle, waren auf Alkoholgenuss zurückzuführen. 

Peitmanns abschließende Bewertung: „Aus alledem ergibt sich, daß der physiologische, d.h. der die Lebensvorgänge betreffende Zustand des Herzens und damit seine Arbeitsleistung, wenn wir von den vorübergehenden Störungen durch Alkoholismus absehen, sich im Laufe der Jahrzehnte nicht nur nicht verschlechtert, sondern sogar gebessert hat, so daß nun mehr (der Kranke ist jetzt 53 Jahre alt) von einer vollen Leistungsfähigkeit des Herzens gesprochen werden kann.“ Wilhelm ist auch nicht an den Folgen der Herznaht gestorben. 

Trotz der Freude über den gelungenen Eingriff: Die Operation hatte für Dr. Peitmann  je nach Blickwinkel ein unangenehmes oder ein amüsantes Nachspiel. Den Bericht darüber verdanken wir seiner Schwester Magdalene, die diese Anekdote im Kreise ihrer Nichten und Neffen erzählte, darunter die spätere Ärztin Dr. Anne-Lise Maaß-Peitmann, die sie wiederum für uns aufzeichnete. Der Alkoholkonsum des vormaligen Patienten Wilhelm hatte dazu geführt,  daß er mit seinen Einkünften nicht auskam und oft knapp bei Kasse war. Er stand dann einige Male vor der Haustür von Dr. Peitmann, bat um Geld und sagte: „Hätten Sie mich damals 1905 sterben lassen, brauchte ich jetzt kein Geld. Nun geben Sie mir man was!“ 

                                                                                                        *** 

Die finanzielle Unterstützung, die Heinrich Peitmann dem genesenen Patienten gewährte,

konnte seine Familie sicher gut verkraften. Im 34. Lebensjahr hatte er 1909 in Hörde seine um 10 Jahre jüngere Frau Karoline Albertine Adelheid, genannt Lilly, Riesberg aus Altenhundem bei Essen geheiratet. 1913, 1914 und 1917 wurden die Söhne Dietrich genannt Dieter, Heinrich genannt Heiner und Wolfgang genannt Wolf geboren. 

Doch auf den verheißungsvollen Start in Beruf und Familie folgte der Ausbruch des 1. Weltkrieges: Heereseinsatz des Vaters als Chirurg, Geburt der Kinder in den Wirren des Krieges, Versorgung der Angehörigen in den folgenden Jahren der Not, abgeschnitten  von allen Verwandten. Wie meisterte die fünfköpfige Familie den Alltag in dieser schweren Zeit?

Dass wir uns heute darüber ein recht genaues Bild machen können,  verdanken wir einem späteren tragischen Ereignis. Nachdem der mittlere Sohn Heiner im März 1943 in russischer Gefangenschaft gestorben war, brachte die Mutter ihre Trauer in einer 50 Seiten umfassenden Gedenkschrift zum Ausdruck, in der sie auch das Leben in der jungen Familie eingehend schildert. Daraus folgen hier einige Auszüge: 

„In diesen ersten Kriegswochen mit ihren seelischen Erschütterungen kamen wir wenig zur rechten Freude über das neue Kind. Jeden Morgen lasen wir in den Zeitungen zunächst die Verlustlisten und fanden bald darin viele Bekannte. Dann wurde in Bethanien ein Rotes-Kreuz-Lazarett eingerichtet, das für Vater eine neue große Arbeitslast bedeutete, zumal von seinen Assistenten mehrere eingezogen worden waren. Aber wir waren trotzdem froh, dass Vater bei uns bleiben konnte. Er hatte in Bethanien 100 Schwerverletzte zu betreuen und in mehreren umliegenden anderen Häusern, u.a. im Schloss Romberg, im katholischen Krankenhaus in Hörde – der dortige Chirurg Dr. Mentler war eingezogen -, und im Hüttenhospital mehrere Hundert Leichtverletzte und Rekonvaleszenten. So war seine Arbeitskraft stark überlastet, da auch die zivilen Kranken durch Dr. Mentlers Fortgang sich vermehrten. Auch  mußte Vater wieder die innere Station versorgen, da Herr Dr. Koch auch Soldat war. “ –   

„Zunächst blieb die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung gut, aber schon bald wurde ein Kartensystem eingeführt, das im Laufe der Kriegsjahre immer drückender wurde. So war das Wirtschaften sehr erschwert.  –  Durch dies alles waren wir stark mit den äußeren Umständen beschäftigt und konnten uns um unsere Kinder nicht in dem Maße kümmern, wie wir es gerne getan hätten.“ – 

Von vielen netten kleinen Geschichten, die die Mutter über ihre Kinder erzählt, sei diese ausgewählt: „Durch irgendeinen Zufall waren die beiden Söhne Dieter und Heiner allein in der Wohnung, als sie schon zu Bett lagen. Als der über uns wohnende Nachbar etwas angetrunken nach Hause kam, irrte er sich in der Höhe der Stockwerke und rüttelte an unserer Etagentür, für die sein Schlüssel natürlich nicht passte. Die Kleinen wurden wach und glaubten, es seien Diebe an der Tür. Dieter bewaffnete sich mit seinem kleinen Luftgewehr und Heiner nahm einen Stock in die Hand. So marschierten sie im Nachtgewand zur Korridortür, um die Diebe zu verscheuchen. Der Nachbar hatte inzwischen seinen Irrtum eingesehen, und es war niemand mehr an der Tür. Am anderen Morgen erzählten sie uns stolz, daß sie Diebe vertrieben hätten. „- 

„So wuchsen sie heran und litten mit unter den Entbehrungen, die die Kriegsernährung uns auferlegte. Als sie in diesen ersten Jahren einmal in Stadthagen waren, stellte Tante Magda (Dr. Heinrich Peitmanns Schwester) jedem einen kleinen Becher Milch hin, den sie aber nicht austranken, sondern verwundert fragten, ob denn jeder einen ganzen Becher Milch haben dürfte, zu Hause gäbe es nur Milch in den Malzkaffee. Im Sommer schickten wir die beiden gerne nach Stadthagen, wo die Verpflegung durch die Peitmannschen Beziehungen zu einigen Bauern wesentlich besser waren. Großmutter Peitmann und besonders Tanta Magda freuten sich immer sehr, wenn ich die beiden, später auch mit Wolf, mit ihren Kindermädchen nach dort brachte.“ – 

„Die Zeiten waren immer härter geworden. In Stadthagen konnten die Verwandten im Winter 1916 keinen Koks für ihre Heizung bekommen. Schwarzhandel schien ihnen wohl zu gefährlich; so kamen Großmutter und Tante Magda lange Wochen zu uns. Unser Haushalt, einschließlich meiner Mutter und deren Mädchen, war auf 11 Personen angewachsen. Kohlen – wir hatten noch keine Heizung – und Kartoffeln auf Marken, meistens zur Hälfte verfroren, mussten jede Woche in kleinen Mengen gekauft werden. Alles andere war schwer und spärlich zu haben. Großmutter Peitmann erklärte, keine Steckrüben essen zu können; wir anderen aßen diese fast täglich zu irgendeiner Mahlzeit. Man nannte später diesen Winter allgemein den „Steckrübenwinter.“ Ich setzte nun meinen Ehrgeiz darein, für sie immer etwas Besonderes zu haben und mußte dafür viele Wege machen. Bei all den Sorgen war ich so elend geworden, daß ich kaum mehr gehen und stehen konnte. Ich tröstete mich aber, daß mein Befinden dem erwarteten Kinde nicht schaden würde, denn Heiner war nach meiner langen Krankheit 1914 als gesundes Kind geboren worden. Leider war es jetzt anders; die allgemeine Schwäche war schlimmer für das Kind gewesen als eine lokale organische Krankheit. So wurde Wolf am 5.Juni 1917 als ein zwar langes, aber sehr zartes, fast lebensunfähiges Kind geboren.  Wir glaubten nicht, daß wir ihn behalten würden. Für seine Amme, die wir auch vor seiner Geburt engagiert hatten, hatten wir ihr kleines Mädchen im Krankenhaus untergebracht, denn wir wollten nicht, daß auch dieses Ammenkind sterben sollte. „-  

„Die politischen Geschehnisse der Jahre 1918 und 1919 drangen natürlich nicht bis in die Kinderstuben. Die Inflation berührte die Kinder auch nicht, und die großen Sorgen der Eltern in der Zeit verstanden sie nicht. Während der Zeit der französischen Besetzung des Ruhrgebietes, die viele Unannehmlichkeiten mit sich brachte, denn wir waren ja vom übrigen Deutschland ganz abgeriegelt – Vaters Praxis schwand um die Hälfte, da wir gerade an der neuen Grenze wohnten -, wurden „Ruhrkinder“ ins übrige Deutschland geschickt. Oft forderten Berufskollegen Kinder ihrer Kreise an. So schickten wir Heiner 1923 für 1/2 Jahr zu einem Kollegen nach Ovelgönne in Oldenburg.“  –  Als sich in den folgenden Jahren die wirtschaftlichen Verhältnisse etwas verbesserten, unternahm die ganze Familie Urlaubsreisen u.a. nach Wangerooge, in das Allgäu und an die Ostsee sowie das Ehepaar Peitmann u.a. nach Italien. 

Lilly Peitmanns Erinnerungsschrift kommt über den Wert für die Familie hinaus Bedeutung als ein wertvolles Zeitdokument über das Leben einer Arztfamilie in den turbulenten ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu. Es fällt insbesondere auf, daß der beruflich stark beanspruchte Vater bei familiären Entscheidungen und Handlungen äußerlich kaum in Erscheinung trat. Als angesehener Chefarzt konnte er sich der Mitverantwortung für das Gesundheitswesen auch in der gesamten Stadt nicht entziehen; so wurde er von der HörderStadtverordnetenversammlung 1926 zum unbesoldeten Stadtrat berufen. Wie sehr er darunter gelitten haben mag, nicht genügend Zeit für die Familie erübrigen zu können,  sich aber um so mehr den Seinen verbunden fühlte und ihnen seine Nähe zeigte, hat er in mehreren Gedichten ausgedrückt, von denen „Saß am Bett zur Gutenacht“ er seinem hernach so früh verstorbenen Sohn Heiner widmete, wie das verwendete Wort „Krauskopf“ erkennen lässt. 

                                   Saß am Bett zur Gutenacht

                                   Heut bei meinem Knaben,

                                   Plaudern, was der Tag gebracht

                                   Wunderreich an Gaben. 

                                  Wie der Taglauf wechselbunt

                                  Kehrt noch einmal wieder,

                                  Stiller wird der Plaudermund

                                  Sinken Hand und Lider; 

                                  Durch die Wimper noch zuletzt

                                  Blick und Gruß mich trafen:

                                  „Vater, ich bin müde jetzt,

                                  Und nun will ich schlafen!“ 

                                 Neigt der Krauskopf schlummermatt,

                                 Heiß noch glühn die Wangen –

                                 Kindersel`ges Traumland hat

                                 Schnell sein Herz umfangen. – 

                                 Wie ich fortgeschlichen bin,

                                 Halb noch umgewendet,

                                 Kommt`s mir jählings durch den Sinn:

                                 „Wenn  d e i n  Tag sich endet, 

                                 Sprichst du auch, wenn  d e  i n  Schiff zieht

                                 Einst zum letzten Hafen:

                                „Lieber Gott, bin erdenmüd

´                               Und nun will ich schlafen?“ 

                                Spräch´ ich´s selig-sicher dann,

                                Alt und grau an Haaren,

                                Könnt´ es wie mein Bub es kann

                                So mit sieben Jahren! 

Wie oft mag Heinrich Peitmann im Alter mit diesen leise vor sich hin gesprochenen Worten das Bild seines Sohnes vor Augen gehabt haben?  Wie hilfreich mag ihm Heiners vertrautes Wort zur Tagesneige am Ende seines eigenen Lebens gewesen sein? 

Alle drei Söhne nahmen nach dem Abitur am Realgymnasium in Hörde und der Ableistung von Wehr- und Arbeitsdienst ein Studium auf. Dieter wurde Diplom-Ingenieur für Maschinenbau und promovierte 1947. Heiner studierte Jura und promovierte 1941. Wolfs Studium der Pharmazie wurde von Kriegsdienst  und Gefangenschaft unterbrochen; er trat dann in den Dienst der v. Bodelschwinghschen Anstalten in  Bethel ein. 

Sohn Heiner wandte sich über sein Lieblingsfach Geschichte mit großem Einsatz der Erforschung der Peit(h)mann-Familien zu. Zum Arbeitsdienst von März bis September 1935 ließ er sich in das Lager Sülbeck zwischen Stadthagen und Bückeburg versetzen, um mit dem ihm von seinem Vater geschenkten Motorrad die Kirchorte zur Durchsicht der Kirchenbücher anfahren zu können. Das Ergebnis: Eine umfangreiche Personenkartei und eine Reihe familienkundlicher Aufsätze. Zur Ausstellung „Alt-Stadthagen“ Oktober 1938 im Saal des Ratskellers steuerte er eine große Stammtafel der Peit(h)mann-Familien bei. Dr. Heinrich Peitmann nahm an den genealogischen Arbeiten seines Sohnes regen Anteil und besuchte  die Peithmann-Familie in Südhemmern, nachdem sich die Familienforscher aus beiden Zweigen, Heiner und Hermann, in Stadthagen kennengelernt hatten. Heiner fertigte auch ein Modell des alten Peitmannschen Hauses in der Niedernstraße an  – über Maße und Aussehen hatte er sich im Stadtarchiv und bei alten Stadthäger Bürgern eingehend erkundigt –   und schenkte es seinem Vater zum 60. Geburtstag im Jahre 1935. 

Mit dem Erreichen des Pensionsalter begannen auch Dr. Heinrich Peitmanns Kräfte nachzulassen. Zudem brach im Mai/Juni 1941 der Zweite Weltkrieg endgültig auch über Dortmund und Hörde herein, als in einer Nacht ganze Straßenzüge und Wohnviertel in Schutt und Asche versanken. Die Familie hatte sich in der Nazizeit von allen Parteiorganisationen ferngehalten, er gehörte nicht einmal dem NS-Ärztebund an. Während eines Kuraufenthaltes in Bad Salzuflen erlitt Heinrich am 3. April 1942 einen leichten Schlaganfall. Ende Februar 1943 legte er dann sei Amt in jüngere Hände. 

Fliegerbomben zerstörten sein Wohnhaus in Hörde. So kehrte das Ehepaar Dr.Heinrich und Lilly Peithmann nach dem Eintritt in den Ruhestand heim nach Stadthagen und bezog das eigene schöne, große Haus in der Vornhäger Straße Nr. 8, das er 1913 für seine Mutter errichtet hatte und über dessen Eingang noch heute in steinerner Schrift zu lesen ist „Dr. Heinrich Peitmann“.  

                                                                                                    *** 

Nun konnte er sich um so mehr der Geschichte seiner Vaterstadt, seinem geliebten heimatlichen  Plattdeutsch und besonders den schönen Künsten widmen, denen seine karg bemessenen Freizeit schon seit früher Jugend gegolten hat. Bereits als Schüler und Student hatte er Gedichte verfasst, die von örtlichen Zeitungen, später auch von führenden deutschen Zeitschriften wie „Jugend“, „Kladderadatsch“ und „Fliegende Blätter“, aufgenommen wurden. Ein Freund schildert seinen dichterischen Werdegang so: 

„Die Lyrik seiner Jugendzeit, der neuartige Klang in Lilienkrons eindrucksstarken Versen, der warme Gefühlston in Schönaich-Carolat´s Dichtungen und die lebensvolle, flotte Art in Scheffels und Baumbachs Liedern zogen ihn in ihren Bann. In ihrer Art formten sich seine ersten Gedichte. Allmählich gewann er seinen eigenen Ton.“ 

Versuchen wir, diesen Ton in einem seiner weiteren Gedichte herauszuhören. 
 

                            Gute Lehre 

         Bin ich verdrossen und sorgekrank

         Durch den Abend gegangen,

         Dämmerung stieg vom Waldessaum,

         Letzte Vöglein sangen. 

         Ging mein Sinnen trüb und quer  –

         Kam ein Alter des Weges daher

         Zwischen Wies` und Ähren,

         Trug gebückt und huckepack

         Einen großen Futtersack,

         Mocht´ ihn wohl beschweren. 

         War´s der Bürd` noch nicht genug  –

         `s reichte wohl auch zweien  –

         Obenauf der Alte trug

         Hoch ein Bündel Maien. 

         Lastgebeugt, doch frohgemut

         Schritt er über die Heide,

         Unter grauer Wimper strahlt´s

         Hell wie Festtagsfreude. 

         Kommst dem Griesgram grade recht

         Heute in die Quere,

         Lieber Alter, habe Dank!

         Gibst mir gute Lehre:

              „Türmt dein Lebensbündel sich

              Gar so schwer zu Hauf,

              Brich ein Zweiglein Maiengrün

              Und pack´s oben auf,

              Maienzweig ist Hoffnungsgrün  –

              Sorg´ und Unmut weicht,

              Maiengrün und Hoffnung macht

              Jede Bürde leicht.“ 

         Sann ich dem Alten noch lange nach

         Heim in seine Klause,

         Und beschämt, doch dankbar froh

         Schlich ich selbst nach Hause. 

In der schlichten, flüssigen,  lebensnahen und lebensfrohen Schilderung einer Begegnung gibt der Menschenkenner Heinrich Peitmann Rat und Hilfe –  nicht direkt, nicht aufdringlich, sondern als Angebot in der Form eines Bildes; um so wirksamer kann er ermutigen, stärken und trösten. Ein wohlwollender, warmer Gefühlston klingt in diesen Versen an. Da werden die Lasten und Schmerzen im Menschenleben, die eigenen Unzulänglichkeiten und Fehler nicht abgetan oder verdrängt, aber durch eine neue Blickrichtung auf Hoffnung und Dankbarkeit bekommen sie einen anderen Stellenwert. 

„So weiß der erfahrene Arzt dem Menschenherzen gar Tröstliches zu sagen. Erst recht weiß er um die lindernde Kraft des Kräutleins Humor, das er gern mit fröhlichem Behagen seiner Seelenmedizin beimischt.“  

                   Das Kräutergärtlein 

        Tret´  ich  durchs niedere Pförtchen

        ins Klostergärtlein ein,

        find´ ich der Kräuter viele

        für Fieber, Sucht und Pein. 

        Melisse grünt und Quendel,

        Beinwurz und Majoran,

        dort für des Magens Schwäche

        Wermuth und Enzian. 

        Seh´ Arnika und Salbei,

        für Stich und Wunden gut;

        Trost leuchtet kranken Herzen

        der rote Fingerhut. 

        Im Mauereck´ Holunder,

        ein Busch von Kranwell auch;

        und gar für Liebeskummer

        ein Rosmarinenstrauch! 

        Fehlt uns  –  s´ hälf allem Wehe,

        ob mit  –  ob ohne Schuld  –

        wollt´ nur, man könnt´ es pflanzen:

        das Wunderkraut   G e d u l d ! 

„Die leise Melancholie, die ob der Vergänglichkeit alles Schönen in der Natur und im Menschenleben sein Herz verdrängt, vermag seiner frohen, lebensbejahenden Weltsicht nicht Herr zu werden.“ 

         „So lang mich trägt die schöne Erde, 

         will dankbar-still ich mich erfreun.“ 

In allem Schmerzlichen ruht für ihn zugleich Beglückendes. Mag die Blütenpracht der herbstlichen Georgine auch vergehen, ihr Leuchten glüht tief innen im Menschenherzen weiter.

          „Denn was Du in Dich aufgenommen,

            In Licht und Sonne trugst nach Haus,

           strahlst Du, wenn Frost und Nebel kommen, 

           aus blauen Augen wieder aus!“ 

Mit diesen Worten kennzeichnet der Freund und Kollege Dr. Josef Risse den Lyriker Heinrich Peitmann. „So hat er in seinen Dichtungen aus den Quellen von Gottesfurcht und Menschenliebe, Heimatsinn und Weltkenntnis, Freude und Trost, Erhebung und Beglückung gespendet.“ 

Heinrich Peitmanns Gedichtband „Am Rande des Alltags“ erlebte insgesamt vier veränderte Auflagen. Die erste Ausgabe mit 51 Gedichten erschien 1925 im Verlag von Friedrich Wilhelm Ruhfus in Dortmund. Die zweite erweiterte Ausgabe mit 67 Gedichten folgte 1932 im Verlag C. L. Krüger in Dortmund; ihr sind Zeichnungen von Ferdinand Staeger, München, beigegeben. Die Druckerei H. Welge in Stadthagen brachte 1950 eine dritte Auflage mit 43 ausgewählten Gedichten heraus. Schließlich stellte Wilhelm Weiland in Stadthagen in den 1970er Jahren noch einen Band mit 33 seiner Gedichte zusammen. Eine größere Anzahl wurde vertont. 

Der Stadthäger Lehrer, Archivar und Ortshistoriker Albrecht Wehling, dem Peitmann in der Heimatforschung verbunden war, begleitete das Erscheinen „Am Rande des Alltags“ aus tiefer Kenntnis der Beweggründe des Dichters: „Diese Gedichte, aufgeblüht aus den verschiedenen Lebenslagen und Stimmungen eines vielbeschäftigten Arztes und einer künstlerisch empfindenden Persönlichkeit erwachsen, rühren an die bedeutsamsten Seiten des menschlichen Lebens. Sie offenbaren schönheitssuchendes Verlangen und sinnende Weltbetrachtung.“ 

Namhafte zeitgenössische Dichter priesen Heinrich Peitmanns Werk. Die Bückeburgerin Lulu von Strauß und Torney (1873-1956) bekennt:“Ein Gedichtband, in dem ich nicht nur den Wurzelboden der gleichen alten Heimat spüre, sondern mich auch durch die gelassene herbstgoldene Stimmung menschlicher Lebensreife innerlich berührt fühle.“ Börries Freiherr von Münchhausen (1874-1944) stellt die „feinsinnige, formvollendete und klare Kunst“ heraus. Und der westfälische Mundartdichter Karl Wagenfeld (1869-1939) rät: „Wer

Gefühl hat für das stille Schwingen der Tiefe der norddeutschen Seele, der nehme das Büchlein. Es wird ihm etwas geben.“ 

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Dr. Heinrich Peitmanns Bibliografie schließt auch eine Reihe von Arbeiten zur Geschichte Stadthagens ein. Bereits 1916 hatte er in der Schaumburg-Lippischen Landeszeitung einen Beitrag in Fortsetzung über „Die Kirche zu Stadthagen“ veröffentlicht.  Im Ruhestand folgten dann 1948 in den Mitteilungen des Vereins für Schaumburg-Lippische Geschichte und Landeskunde „Unbekanntes aus der St. Martini-Kirche zu Stadthagen“ und die 31 Seiten starke Jubiläumsschrift „Die alten Glocken von St. Martini und die Weihe der neuen Glocken in Stadthagen am 3. Oktober  1948“  sowie um 1949 der Führer durch die „Die St. Martini-Kirche und das Fürstliche Mausoleum in Stadthagen – eine heimatkundliche, bau- und kunstgeschichtliche Betrachtung“. Seine Kenntnisse kamen sowohl dem Schaumburg-Lippischen Geschichtsverein als auch dem Verschönerungsverein Stadthagen zugute, dessen zweiter Vorsitzender er lange Jahre war. Kein Wunder, dass er zu seinen runden Geburtstagen hohe Ehrungen von Stadt und Kirchengemeinde, aber auch aus seiner früheren Wirkungsstätte entgegennehmen konnte, so die in nur 150 Exemplaren aufgelegte Festgabe „Gesichte und Gestalten  – Heinrich Peitmann zum 8. Juni 1935 dargebracht“  mit einer Sammlung erlesener Reimverse von Dichterkollegen. Die Heimatzeitungen widmeten ihm warmherzige Laudationes. 

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Dr. Heinrich Peitmann starb am 1. Oktober 1954 im 80. Lebensjahr und wurde auf dem Stadthäger Friedhof begraben. Nun blieb für ihn die Zeit stehen, die ihm in seinem Leben stets wegzulaufen schien, wie er es in einem seiner heiteren plattdeutschen Gedichte so trefflich ausgedrückt hat: 

De Tied un  –  Du!

Fräuher un   –  nu! 

Als eck jung was, dacht eck oft:

Häst sau veele Tied.

Aewermaud ist vör nix bang,

Dag un Leewen sind sau lang

Un de Weg sau wiet! 

Anners word`t  –  das Leewen dreew

Stolt un Lust herut!

Arbeit gawwt manch harten Slag,

Inne Week met seeben Dag

Kamm eck knapp met ut! 

„Tied, bliw stahn! Bin mäuh´ un olt,

Bist sau flink un frech.“

Doch  –  wie´t Water inne Beek,

Löppt mi Stunn un Dag un Week

Uennern Fingern weg! 
 
  

Wilhelm Meier-Peithmann