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Siedler im Osten (20.9.2003)

Siedler im Osten

Peithmann aus Minden-Ravensberg in der Provinz Posen, in Schlesien und Mecklenburg-Vorpommern

 „Das Jahrhundert der Deutschen.“ So lautet der Titel einer weit verbreiteten Bildchronik über die 1900er Jahre. Zwei Weltkriege, Dreiteilung des Landes, braune und rote Diktatur, Vertreibung und Flucht, aber auch westdeutsches Wirtschaftswunder, friedliche Revolution in der sogenannten DDR, Wiedervereinigung und europäischer Zusammenschluß – ein bewegtes Jahrhundert, ein Jahrhundert auch, das tiefe Spuren des Leides hinterlassen hat.

 Der Blick auf die Themen unserer bisherigen zwölf Familientage überrascht: Diese jüngere Zeit fand bisher kaum Eingang in die Vorträge. Hat uns im Familienverband Peit(h)mann zeitlich ferne Familiengeschichte mit vermeintlich großen Namen stets mehr gereizt als solche Ereignisse, an die sich mindestens die Älteren unter uns noch selber erinnern?

 Welche große Bandbreite familiengeschichtlicher Inhalte bietet das 20. Jahrhundert gerade auch für die Peit(h)mann-Familien? Das heutige Thema „Siedler im Osten – Peithmann aus Minden-Ravensberg in der Provinz Posen, in Schlesien und Mecklenburg-Vorpommern“ bezieht die wesentlichen Stationen der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts seit den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg mit ein.

In den ersten beiden Jahrzehnten sind Angehörige zweier westfälischer Familienzweige beteiligt: „Unterlübbe“ und „Wulferdingsen“. Zeichnen wir ein Bild beider Familien zu Beginn des vorigen Jahrhunderts.

 Wilhelm Peithmann auf dem Hof Unterlübbe Nr. 16 in Köhlterholz hatte insgesamt zehn Kinder, von denen acht aufwuchsen. Unter den Töchtern heirateten zwei Bauern: Marie August Wiese in Südhemmern und Karoline Heinrich Bekemeyer in Oberlübbe sowie Friederike den Kaufmann August Adam in Bielefeld. Ludwig wurde Lehrer und Hermann Hoferbe; Heinrich heiratete Sophie Quade auf einem Hof in Frotheim. Wilhelm und Fritz waren nicht versorgt.

 In Wulferdingsen hatte Ludwig Peithmann ebenfalls zehn Kinder, von denen sechs erwachsen wurden. Hier treffen wir ähnliche Verhältnisse an.   Die beiden Mädchen heirateten auf Höfe, Friederike Hermann Nolting in Gohfeld und Marie Friedrich Rüter in Volmerdingsen. Wilhelm übernahm das elterliche Anwesen. Und die übrigen Söhne Ludwig, August und Heinrich?

 Nur zwei Höfe und gleich fünf unversorgte Söhne. Diese beiden Familien zeigen beispielhaft die Probleme jener Zeit auf Bauernhöfen in Minden-Ravensberg und darüber hinaus auf. Kinderreiche Familien, abgeebbte Auswanderungswelle nach Amerika, heimische Industrie noch in den Kinderschuhen – wohin dann mit den vielen nicht erbberechtigten Bauernsöhnen?

 Befragen wir die Betroffenen. In Unterlübbe arbeitete der 1879 geborene Wilhelm nach dem Schulbesuch auf dem elterlichen Hof, um nach der zweijährigen Militärzeit bis zu seiner Verheiratung dorthin zurückzukehren. Ähnlich wird es seinem um zwei Jahre jüngeren Bruder Fritz ergangen sein.

 In Wulferdingsen wäre der 1885 geborene älteste überlebende Sohn Ludwig gerne aus der Landwirtschaft abgesprungen und Pastor geworden; doch da sein Vater kränklich war,  mußte er so lange zu Hause die Wirtschaft mit versehen, bis seine jüngeren Brüder herangewachsen waren und auch mithalfen. Aber dann?

 Wir sehen: Spätestens wenn der Erbe, also in der Regel der jüngste Sohn, den Besitz antrat, war kein Platz mehr für die überzähligen älteren Brüder, es sei denn, sie begnügten sich mit abhängiger Arbeit als Knecht oder fristeten unverheiratet zeitlebens auf dem Hof ein Onkeldasein.

 Gerade zu dieser Zeit eröffneten sich für viele dieser jungen Männer neue Möglichkeiten für landwirtschaftliche Existenzen in der damaligen Provinz Posen, die seit 1750 zu Preußen gehörte. Die gleichnamige Hauptstadt, heute das polnische Poznan, liegt etwa 200 km östlich von Berlin. Hier waren viele Großgrundbesitzer nach der Jahrhundertwende in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Die Ländereien wurden durch Landgesellschaften angekauft und dann mit Bauern aufgesiedelt, vor allem mit westfälischen Bauernsöhnen. Ein großer Teil kam aus dem Kreis Minden.

 Begleiten wir nun die nach einem Lebensunterhalt suchenden Söhne beider Familien auf ihrem Weg in den Osten.

 Wilhelm aus Unterlübbe heiratete 1907 Wilhelmine Münnich, Anbauerntochter aus seinem  Heimatort. Als 29jähriger übernahm er mit ihr im folgenden Jahr einen 70 Morgen großen Hof in Gontsch im Kreise Znin. In diesem Dorf lebten nur junge Ansiedler aus Westfalen. Auch sein Bruder Fritz erwarb mit seiner Frau Marie Burmeister in der näheren Umgebung einen landwirtschaftlichen Betrieb.

 Der ländliche Handel in Posen lag weitgehend in den Händen deutscher bäuerlicher Genossenschaften, in die sich Wilhelm stark einbrachte.

 Er war Mitglied und viele Jahre auch Angehöriger der Vorstände bzw. Aufsichtsräte der örtlichen Molkereigenossenschaft, der Deutschen Kornhaus-Genossenschaft und der Viehverwertungsgenossenschaft in Janowitz. Diese Unternehmen bescheinigten dem „äußerst tüchtigen Landwirt“ die treue Erfüllung genossenschaftlicher Pflichten und die vorbildliche Wahrnehmung seiner Ehrenämter. Alle diese Dokumente aus Posen sind noch erhalten und befinden sich als Kopien in unserem Peithmann-Archiv.

Bevor wir von den Wulferdingser Peithmann-Söhnen in der Provinz Posen berichten, sei ein Zwischenfall erwähnt, der sich 1904 noch in der Heimat ereignete. Fremde junge Leute versuchten, in das alte Bauernhaus in Wulferdingsen, das zehn Jahre später abbrannte, einzudringen. Die drei ältesten Söhne, Ludwig, August und Heinrich, wollten die Einbrecher stellen. Dabei wurde Ludwig mit einer Heugabel ein Auge ausgestochen; er büßte das Augenlicht ein. Im Handgemenge wurde Heinrich von einem der Eindringlinge ein Glied des Ringfingers der rechten Hand abgebissen. Durch die Blutspur im Gesicht des Täters konnte man diesen am nächsten Tag überführen und ihn und seine Komplizen vor dem Bielefelder Landgericht verurteilen.

Ludwig machte sich 1911 nach Posen auf und erwarb einen 84 Morgen großen Betrieb in Wagenau im Kreis Gnesen. Hier heiratete er im selben Jahr Karoline Teikemeier, die auch aus Wulferdingsen stammte. Ihre Eltern waren kurz vorher in Hohenau im Kreis Gnesen ansässig geworden.

 Der Ort Wagenau bestand ursprünglich aus einem deutschen Gut und einem alten Dorf, in dem hauptsächlich Polen wohnten. Das Gut wurde nach der Jahrhundertwende mit deutschen Bauern aufgesiedelt. Ludwig kaufte jedoch nicht eine solche Siedlerstelle, sondern einen ehemaligen polnischen Hof, der außerhalb des Dorfes lag und schon vor ihm von einer deutschen Familie bewirtschaftet worden war. Das frühere polnische Bauernehepaar verbrachte den Lebensabend auf dem Altenteil des Hofes. Es hatte sich beim Verkauf zusichern lassen, daß der jeweilige Inhaber bis zum Lebensende beider Personen für den Lebensunterhalt zu sorgen hatte. So war im Kaufvertrag vorgesehen, das polnische Ehepaar regelmäßig mit bestimmten Mengen an Getreide, Eiern, Milch, Geflügel, Schweinen und Brenntorf zu versorgen.

 Zum Betrieb in Wagenau gehörten gute Weizenböden und eine Niedermoorwiese mit einem Torfstich. Bald nach Übernahme baute Ludwig Wohnungen für zwei Landarbeiterfamilien. Die Männer waren im Hauptberuf bei der Eisenbahn angestellt. Sie und ihre Familienangehörigen arbeiteten in den Spitzenzeiten, etwa bei der Frühjahrsbestellung, in der Ernte und beim Dreschen, auf dem Hof als Hilfskräfte.

Ludwig war reges Mitglied seiner Kirchengemeinde. In Kursen und durch Selbststudium erwarb er auch die Befähigung zum Predigen. Da die zuständige Kirche in Libau etwa drei km entfernt war, führte er in seinem Haus Gottesdienste und Andachten durch.

 Ludwigs Bruder August kam 1913 nach Posen. Er übernahm in Bischofsee im Kreis Gnesen ein 80 Morgen großes Anwesen, den Rest eines an deutsche Bauern aufgeteilten Gutes. Auch er heiratete dort eine Teikemeier, nämlich Sophie, die Schwester seiner Schwägerin Karoline.

 Das Jahr 1914 sieht also vier westfälische Peithmann-Söhne als Siedler in der Provinz Posen, alle erst seit ein bis sechs Jahren und noch ganz damit beschäftigt, die gerade übernommenen oder gegründeten Betriebe aufzubauen. –  Da bricht der erste Weltkrieg aus, ein Ereignis, das für alle die Katastrophe einleitete.

 Daß alle vier gerade jetzt eingezogen wurden, bedeutete für die auf den Höfen zurückgelassenen Ehefrauen mit ihren Kindern in zudem fremder Umgebung eine schwere Bürde. Wilhelm in Gontsch nahm als Unteroffizier und Sergeant von Anbeginn an den Kämpfen sowohl an der Ost- als auch an der Westfront teil. Sein Bruder Fritz wurde gleich 1914 im Osten vermißt. Sieht man davon ab, daß seine einzige Tochter Erna um 1940 noch einmal den großelterlichen Hof in Unterlübbe besuchte, haben sich die Spuren seiner Familie in dem polnisch gewordenen Ort verloren.

 Am Ende des ersten Weltkrieges stand der Versailler Vertrag vom 28. Juni 1918. In ihm bestimmten die Siegermächte, daß Deutschland die Provinz Posen an den neu errichteten polnischen Staat abzutreten hatte. Nur Siedler, die vor 1908 in diese Provinz gezogen waren, konnten die polnische Staatsbürgerschaft erhalten. Unsere Verwandten galten daher als Deutsche in Polen und durften Grundbesitz weder haben noch erwerben. Das bedeutete für sie praktisch das Aus  ihrer dortigen Existenz – schon nach wenigen mit Fleiß und Entbehrungen in Haus, Hof und Wirtschaft ausgefüllten Jahren eines Neuanfangs in der Fremde.

 Wie haben unsere Familien diesen Schlag erlebt und verkraftet? Hatten sie nach den vergeblichen Anstrengungen, nach Krieg und Demütigungen noch die Kraft für einen abermaligen Beginn? Und vor allem: Waren überhaupt noch freie Hofstellen auffindbar für die große Zahl der Rückkehrer?

 Frieda Peithmann verheiratete Guggenberger, Tochter von Wilhelm in Gontsch, hat alles zu Papier gebracht, was sie darüber von ihren Eltern in Erfahrung brachte und selber erlebte. Dieses überaus lebendig geschriebene, umfangreiche Zeitdokument, das ebenso die Weimarer Zeit, den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegszeit mit berücksichtigt, diente als eine Hauptquelle für den Vortrag.

 Friedas Geschwister Wilhelmine, Wilhelm, Ludwig und Marie waren noch vor 1918 geboren; im selben Haus in Gontsch erblickten dann sie selber und Hermann 1920 und 1921 das Licht der Welt; ihre Geburtsurkunden trugen aber das Siegel mit dem polnischen Adler.

 Der verlorene Erste Weltkrieg, die Übertragung der Provinz Posen an Polen – wen wundert es, daß es zwischen den Angehörigen der beiden Völker vor Ort zu Konflikten kam.

 So erzählte Vater Wilhelm von vielerlei Schikanen, etwa daß deutsche Bauern nach Kriegsende 1918 die Steuern des Jahres noch einmal an den polnischen Staat zu zahlen hatten. Unsicherheit und Kriminalität nahmen zu und erforderten die Haltung von drei Hunden. Auf den Behörden wurde jetzt nur noch polnisch gesprochen, es sei denn man hatte Zigaretten mit Goldmundstück dabei.

 Im Frühjahr 1926 brachte der Postbote den Bescheid der Enteignung. Der Bauernhof mit seinem lebenden und toten Inventar mußte dem polnischen Nachfolger übergeben werden. Der war aus dem Ruhrgebiet gekommen und hatte sich für die Zugehörigkeit zum polnischen Staat entschieden. Dieser bat die Familie Peithmann, sie möge auf dem Hof noch so lange wohnen bleiben und ohne Bezahlung arbeiten, bis die polnische Familie nachgezogen war. Doch das hätte Wilhelm nicht ertragen können. Zusammen mit seinen Angehörigen und mit Freunden räumte er innerhalb von drei Tagen das Anwesen. Aber es dauerte dann noch ein Vierteljahr, bis die Papiere zur Ausreise vorlagen. Ohne jedes Einkommen unter fremden Menschen in dem neuen polnischen Staatsgebiet drei Monate lang eine achtköpfige Familie durchzubringen – das war eine bedrückende Zeit, erinnerte sich Wilhelm.

 In Schneidemühl befand sich ein Lager für ausgewiesene Deutsche aus der Provinz Posen. Doch hier gesellten sich zu den Sorgen um die Zukunft noch viele ansteckende Krankheiten. So entschloß sich die Familie im Sommer 1926, zurück nach Westfalen zu reisen, wo sie im Elternhaus in Unterlübbe Aufnahme fand; die Kinder wurden jedoch auf mehrere Familien im Umkreis verteilt. Mit so vielen Angehörigen nun auf die Hilfe von Verwandten angewiesen zu sein, empfanden Wilhelm und Wilhelmine Peithmann gleichfalls als sehr bitter.

 So machte er sich bald auf die Suche nach einem neuen Bauernhof und bereiste viele deutsche Provinzen. Doch nach dem Ersten Weltkrieg war das Angebot an geeigneten Höfen gering. Jedesmal kam er hoffnungslos und zermürbt von den Erkundungsfahrten zurück. Pläne, das Gut Hüffe im Altkreis Lübbecke und einen Hof in Schleswig-Holstein zu übernehmen, zerschlugen sich ebenso. Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß er sich zuletzt auch in Schleswig-Holstein umsah und sich schließlich trotz aller Bedenken wieder an einer deutsch-polnischen Grenze niederließ: In Grenzvorwerk im Kreise Militsch erwarb er mit finanzieller Hilfe seines Bruders Hermann aus Unterlübbe einen Hof von 73 Morgen.

 Ein ähnliches Schicksal widerfuhr den Wulferdingser Peithmann-Familien in Posen. Ludwig in Wagenau wurde 1925 enteignet. Er zog mit seinen Kindern Heinrich, Ludwig, Frieda, Else, Wilhelm und Erna – Adolf war noch nicht geboren – innerhalb des Kreises Gnesen nach Hohenau, wo ja die Familie seiner Frau Karoline geborene Teikemeier ansässig geworden war. Hier die gleiche Situation: große Familie, kein Einkommen, fremde Menschen, Wechsel der Staatsobrigkeit. Auch ihm blieb nur ein einziger Ausweg: Vom Stammhof in Wulferdingsen sich auf die Suche nach einer neuen Existenz machen.

 Doch hier geschah etwas Unvorhergesehenes: Gleich nach dem Eintreffen im Elternhaus erkrankte Ludwig schwer an einer lebensbedrohlichen Darmverschlingung und mußte sich einer Notoperation unterziehen. Seine in Posen zurückgelassene Familie erfuhr erst davon, nachdem die Todesgefahr gebannt war.

Als auch die Familie Teikemeier auf dem Hof in Hohenau 1926 enteignet wurde, fand Ludwig mit seiner Familie Aufnahme bei seinem Bruder August in Bischofsee.

Ludwig bereiste Mecklenburg und wurde in Bartelshagen im Amt Rostock fündig, wo er mit Unterstützung seines Elternhauses einen Bauernhof von 152 Morgen kaufte.

August aus Bischofsee folgte dem Beispiel seines Bruders. Er zog mit seiner Frau Sophie Teikemeier und seinen bis dahin geborenen Kindern Else, Hertha, Gerhard, Erna und Frieda – Herbert kam erst 1928 dazu – nach Bentwisch im Kreis Rostock und erwarb einen Hof, zu dem 150 Morgen gehörten.

 Wieder eine Zwischenbilanz: Nach den durch die politischen Umstände im Zusammenhang des Ersten Weltkrieges vereitelten Ansiedlungen in der ehemaligen Provinz Posen kehren von den einst nach dort aufgebrochenen vier Familien die drei erhalten gebliebenen zurück und versuchen, neue bäuerliche Existenzen in Schlesien und Mecklenburg zu gründen. Zu ihnen werden noch zwei Peithmann-Familien stoßen, die sich erst später auf den Weg nach Osten machen.

 Der erste Schauplatz: Wilhelm Peithmanns neues Ziel Grenzvorwerk in Schlesien. Die Umsiedlung der siebenköpfigen Bauernfamilie mit aller Habe erlebten vor allem die Kinder als einen gewaltigen Einschnitt. Für die sechsjährige Tochter Frieda war es ein Wechsel gerade mitten in der Lebensphase auf Heimatprägung. So kann sie sich noch heute an bemerkenswerte Einzelheiten auch der Reise mit der Bahn erinnern:

„In Breslau angekommen, haben wir … im Bahnhofshotel mit Hilfe des Roten Kreuzes übernachtet. …Am nächsten Morgen ging es dann weiter nach Korsenz. Es war Sonntag und Vater mußte erst einmal  einen Mann finden, der uns mit einem Pferdewagen nach Grenzvorwerk brachte. … Wir fuhren alle mit bangen Gefühlen, denn außer Vater hatte noch keiner von uns den Weg gesehen. In einer Kurve hatte ich Angst, die Straße sei ganz einfach zu Ende und führe in den Wald. Diese Stelle kann ich heute noch genau zeigen.

In Grenzvorwerk angekommen, wurde im Gasthaus abgestiegen. Es war Palmsonntag und gerade Konfirmation. Ich sah zum ersten Mal Konfirmandinnen mit einem Myrtenkranz. Nach dem Mittagessen wurden wir von einem anderen Neusiedler abgeholt und notdürftig untergebracht. Unsere Möbel kamen erst ein paar Tage später mit der Bahn. Ich erinnere mich noch gut, daß mein Vater und mein Bruder Ludwig mit einem geliehenen Leiterwagen die Sachen vom Bahnhof abholten. Manche Kisten waren noch gar nicht geöffnet von Posen her. Im Stall, der noch leer war, hat mein Vater alle Kisten geöffnet, und Kisten und Holzwolle stapelten sich dort. … Eine lustige Begebenheit war für uns Kinder eine gebaute Kiste mit Hühnern. Mein Onkel hatte Rüben in die Kiste gegeben. Rüben deshalb, damit sie nicht verdursteten. Sie hatten die Reise gut überstanden und unterwegs auch Eier gelegt. Es war unser erstes Vieh auf dem Hof. …

Eine Woche nach unserer Ankunft war Ostern. Dieses Ostern werde ich nie vergessen. Wurde meinem jüngeren Bruder und mir doch immer gesagt, der Osterhase wird uns hier gar nicht finden, sind wir doch so weit weg von unserem Zuhause“. – Dazu eine kleine Bemerkung: So äußert sich sehr bezeichnend das kindliche Gefühl der Fremdheit. – „Doch wie glücklich waren wir, daß uns der Osterhase doch gefunden hatte und wir Kleinen sehr reichlich beschenkt wurden.

… Einige Tage nach Ostern begann für mich der Ernst des Lebens. … In Grenzvorwerk gab es keine Schule; wir mußten in den Nachbarort Deutscheich, der drei km von uns entfernt war. … Den weiten Weg legten wir jeden Tag zu Fuß zurück. …

Meine älteste Schwester Minchen war schon 18 Jahre alt. Mein ältester Bruder Willi lernte Kaufmann und blieb noch in Höxter an der Weser, damit er seine Lehrzeit nicht ein zweites Mal unterbrechen mußte.

Mein Bruder Ludwig und meine Schwester Maria … in Grenzvorwerk … litten noch sehr unter Heimweh, denn sie hatten ihren kindlichen Bekanntenkreis in der Provinz Posen zurückgelassen. Wenn man seine Heimat verlassen muß, ist das noch viel schwieriger, als wenn man freiwillig in die Fremde geht.“

 Die Probleme der Eltern betrafen darüber hinaus Grundfragen der Existenz von Familie und Betrieb: Als die Familie im März 1927 das Anwesen mit den dazugehörigen 73 Morgen in Besitz nahm, zeigten sich, wie auch auf den Höfen der übrigen Siedler, große Mängel an Gebäuden, Äckern und Wiesen. Ohne die Mithilfe der vier erwachsenen Kinder wäre der Neubeginn in Schlesien nicht möglich gewesen. Vergeblich bemühte sich Wilhelm bei der Siedlungsgenossenschaft um die Beseitigung der Mißstände. Die Siedler in Grenzvorwerk wählten ihn zu ihrem Sprecher und versuchten nun vor allem über den Kreislandbund, die Öffentlichkeit durch Berichte in Zeitungen aller politischen Richtungen zu informieren. Sie machten ebenso die Bezirksregierung und die Kirchen beider Konfessionen auf die Übelstände aufmerksam. Daraufhin bereisten Regierungskommisionen, Würdenträger der Kirchen sowie Reichstagsabgeordnete verschiedener Parteien die Siedlung Grenzvorwerk. Sogar in einer Reichstagsrede kamen die Probleme der Neusiedler zur Sprache. Erst 1935/36 ermäßigten die Behörden den Kaufpreis von 43500 auf 34000 RM. Außerdem wurden die Gebäude instandgesetzt.

Wilhelm Peithmann betrieb in Grenzvorwerk hauptsächlich Getreidewirtschaft: drei bis vier ha baute er mit Stärkekartoffeln an. Er verkaufte das Getreide an die landwirtschaftliche Hauptgenossenschaft in Trachenberg und die Kartoffeln an eine Flockenfabrik.

 Doch es war kein normales bäuerliches Leben, so wie man es von der Heimat in Minden-Ravensberg gewohnt war. Folgender Satz in Frieda Peithmanns Erinnerungen zeigt das auf: „Menschen, die mitten im Lande leben, können sich gar nicht vorstellen, um wieviel schwieriger das Leben an der Grenze ist.“ Und dann nennt sie Beispiele:  „Schon allein die Zollbetimmungen. Da durfte kein Vieh transportiert werden, ohne vom Zollamt eine Transportbescheinigung zu haben. Oder das Vieh auf der Weide: Es wurde immer gezählt und mußte auch genau beschrieben werden“.

 Aus der Schulzeit erinnert sich Frieda Peithmann besonders an das Schwergewicht der schlesischen Geschichte, vor allem daran, welche Einzelheiten etwa über die schlesischen Kriege auswendig zu lernen waren – „Schlesien galt schon oft als ein heiß umkämpftes Land“ – und  an das gegenseitige Ausspielen von links und national gesonnenen Lehrkräften und Schulräten insbesondere vor und nach der Machtergreifung Hitlers.

 Und dann die Erlebnisse an der nur vier km entfernten polnischen Grenze in der kriegslüsternen Zeit. Ängste verursachten insbesondere den Kindern die jährlichen Manöver des polnischen Militärs direkt hinter dem Zaun.

 Doch bevor der Zweite Weltkrieg ausbrach, machte Frieda eine bezeichnende Erfahrung. Sie berichtet von einem Erlebnis, das das Verhältnis der jahrzehntelang von der übrigen Verwandtschaft weit abseits lebenden Familie eindrucksvoll aufzeigt – von Verwandten also, die für sie nur in Erzählungen lebten:

„Im Herbst 1938 hatte ich mir vorgenommen, mal das Land meiner Väter ein bißchen näher kennenzulernen. Eigentlich wurde ich zu Hause gebraucht; aber die Bitte, mal für kurze Zeit nach Westfalen zu gehen, haben mir meine Eltern doch nicht abgeschlagen. So arbeitete ich in Minden fünf Monate bei einer Familie im Haushalt. Meine Freizeit benutzte ich dazu, alle Verwandten zu besuchen. Die meisten kannte ich schon, denn 1934 war ich mit meiner Mutter bereits mal für drei Wochen in Westfalen zu Besuch. Für mich waren Tanten und Onkels, Cousinen und Vettern irgendwie etwas Besonderes. Waren wir doch in der Provinz Posen und auch in Schlesien immer total ohne Verwandtschaft. Hier in Westfalen erschien mir dann das ganz anders. Im Kreise einer großen Verwandtschaft ist man gar nichts Besonderes. Die Erfahrung mußte ich erst machen. Als ich dann im Frühjahr 1939 wieder nach Hause kam, war ich sehr glücklich, wieder daheim und in Schlesien zu sein. Nach Westfalen wollte ich nie wieder fahren. Meine Mutter war auch sehr froh, daß ich wieder da war und sie wieder eine Hilfe hatte. Ich spürte jetzt so recht, daß ich doch ein sehr gutes Elternhaus hatte, zumal noch zwei Brüder da waren, die – beide musikalisch – mit uns viel Hausmusik machten. … So gesehen waren wir auch eine fröhliche Familie.“

 Doch diese auch fröhliche Zeit nahm ein jähes Ende.

Am 1. September 1939 verkündete Hitler vor dem Reichstag den Angriff auf Polen. Das im Danziger Hafen liegende deutsche Kriegsschiff „Schleswig-Holstein“ hatte um 4.45 Uhr das Feuer auf die Westerplatte eröffnet. Der Polenfeldzug – ohne jede Kriegserklärung – begann auf breiter Front.

 Frieda Peithmann fährt fort: „Nun veränderte sich das bis dahin so friedliche Leben für uns. Mein Bruder Ludwig wurde gleich eingezogen. Die letzten Wochen waren schon voller Spannung gewesen. Auf polnischer Seite wurden die Felder vorzeitig geräumt und Stacheldraht gezogen. Als wir am 20. August den letzten Hafer eingefahren hatten, es war ein Sonntag und meine Mutter hatte ihren 50. Geburtstag, darum vergesse ich das nicht, waren wir sehr froh, denn unsere Felder lagen sehr frei und übersichtlich, und da trauten wir uns nicht mehr hin. Die Hälfte der Felder reichte direkt bis zur Grenze.“

 Frieda schildert nun weitere Ereignisse einige Tage vor Kriegsbeginn: Zwei polnische Panzerspähwagen standen auf der Hauptstraße hinter der Grenze. Das deutsche Arbeitsmaidenlager wurde geräumt. Die Grenzbeamten mit ihren Familien zogen ab. Die Polen im grenznahen Rawitsch öffneten das Zuchthaus; jede Nacht kamen Insassen, darunter Schwerverbrecher, über die Grenze.

„Am 1. September wurde so gegen 10 Uhr vor Rawitsch die Eisenbahnbrücke gesprengt, ebenfalls die Straße. Mein Vater meinte danach, eine Truppe, die vorrücken will, sprengt keine Brücken. Aber wir waren noch immer in Sorge und Ungewißheit. Meine Mutter und ich hatten ein paar Nächte bei Nachbarn am anderen Dorfende geschlafen. Mein Vater und mein Bruder Hermann haben alle Nächte gewacht. – Bei uns und in der polnischen Stadt Rawitsch hat es keine Kämpfe gegeben, auch Soldaten sind nicht durchgekommen. Der ganze Fernverkehr war unterbrochen. Es spielte sich dort nichts mehr ab.

Nach etwa drei Wochen … kamen unsere Soldaten zurück nach Deutschland. Da sind viele Einheiten durch unser Dorf gefahren. Sie waren überglücklich, daß sie in der Heimat Deutschland waren und erstmal der Krieg zuende schien. Damals wußten wir noch nicht, was da noch alles kommen würde. Bei uns kehrte wieder Ruhe ein. Der Grenzverkehr blieb für Zivil geschlossen. Erst viel später begann sich das zu lockern.“

Auch wenn die Familie trotz vieler Einschränkungen nicht viel vom Krieg spürte, der Frankreichfeldzug nach drei Wochen beendet war und alle sehr hofften, daß doch bloß bald wieder Frieden würde, so trog doch der Schein: Auch der 18jährige Bruder Hermann wurde eingezogen, und in der Ernte 1940 wurden auf dem Hof französische Kriegsgefangene zugeteilt.

 Inzwischen waren die Peithmanns aus Unterlübbe nicht die einzigen aus den westfälischen Familienzweigen, die in Schlesien gesiedelt hatten. 1938 waren Angehörige der Frotheimer Linie dazugekommen.

 Wilhelmine, die 1911 geborene Enkelin des Begründers des Frotheimer Zweiges Heinrich Peithmann und seiner Frau Sophie Charlotte Siebe genannt Weber sowie die älteste Tochter des Frotheimer Hoferben Nr. 16, Wilhelm Peithmann, hatte den Stellmachermeister Wilhelm Picker 1938 geheiratet. Mit ihm war sie im selben Jahr nach Schlesien gezogen, wo im Kreis Grünberg die Aufsiedlung von Stoschenhof anstand, ein in Konkurs geratenes Gut des Grafen Stosch, der mit der Zirkusbesitzertochter Sarasani verheiratet war und später als Hans Stosch-Sarasani den Zirkus mit führte. Die neun entstandenen Höfe wurden von Bewerbern aus dem nördlichen Westfalen und dem westlichen Niedersachsen übernommen, darunter von einigen aus Frotheim-Isenstedt, eben auch von Wilhelm Picker, der seinen erlernten Beruf aufgab und sich hier dem landwirtschaftlichen Betrieb zuwandte. Das Hauptgut bewohnte der Onkel Niederstucke von Elisabeth Peithmann, Frau unseres Vorsitzenden Hermann. Alle anderen mußten neue Anwesen errichten.

 Auch das nordöstliche Mecklenburg, wo die vertriebenen Peithmanns aus Wulferdingsen eine neue Bleibe gefunden hatten, erhielt Nachschub aus der Heimat. In die Nähe seiner beiden Brüder zog der 1889 geborene Heinrich. Der hatte nach seiner Eheschließung mit Karoline Oberblöbaum in Bröderhausen im Altkreis Lübbecke dort eine kleine Landwirtschaft und einen schwunghaften Viehhandel betrieben. 1932 kaufte er im heutigen Kreis Ribnitz-Damgarten das Restgut Petersdorf, zu dem etwa 600 Morgen Land gehörten.

Das Gut Petersdorf war ziemlich heruntergekommen – so richtig eine Aufgabe für den zupackenden Heinrich Peithmann. Er sanierte den großen Betrieb von Grund auf, drainierte das Land und erneuerte die Stallungen. Hierbei nutzte er die Verbindungen nach Wulferdingsen. Mit seinem Bruder und dem Schmied Baurichter vereinbarte er, daß deren Söhne für eine Reihe von Monaten nach Petersdorf kamen und dort beim Aufbau des Gutes halfen.

 Heinrich war Landwirt und Geschäftsmann. Er suchte und fand immer neue Arbeitsfelder und Marktlücken, um Geld zu verdienen.

Im großen Umfange baute er Gemüse an und vermarktete auch seine Erzeugnisse. Auf 20 Morgen zog er Steckrübenpflanzen, die er nach der Ernte an Landwirte verkaufte. Ein weiterer ertragreicher Geschäftszweig war die Vermehrung von Saatkartoffeln, die sein Bruder in Wulferdingsen dann im Mindener Land über die Genossenschaften anbot. Zeitweise machte er Geschäfte mit Pferden, die er als zweijährige kaufte, auf seine Weiden brachte und als dreijährige wieder verkaufte. – War einmal mit Schweinen kein Geld zu machen, blieben die Ställe vorübergehend leer, und er wandte sich anderen Produkten zu. An den Wochenenden arbeiteten auf seinem Gutshof Gefangene, die in Ribnitz beim Flugzeughersteller Bachmann beschäftigt waren.

 Auch als Gutsbesitzer blieb Heinrich Peithmann Bauer und legte nicht viel Wert auf seine äußere Erscheinung. Gamaschen waren sein Markenzeichen, morgens mit Schuhen und nach dem Mittagsschlaf mit Holzschuhen. An Mützen hatte er einen großen Verbrauch, weil er sie überall liegen ließ. Gerne fuhr er mit dem Fahrrad zum Feld, doch ließ er sich dann ebenso gerne mit dem Pferd oder Trecker weiterfahren. Abends mußten seine Leute das Fahrrad wieder ausfindig machen. Problematisch war ebenso, daß er Mützen und Fahrräder auch von anderen Personen nahm, wenn er sie irgendwo liegen sah.

 Als Viehhändler hatte Heinrich gute Menschenkenntnisse. Er kannte nicht nur die Eigenschaften und Charaktere der Leute, sondern wußte auch über deren wirtschaftliche Verhältnisse gut Bescheid. Kein Wunder, daß er deshalb in der Verwandtschaft und im Umfeld der Bauern und Kunden aus dem Viehhandel als aktiver Heiratsvermittler überaus erfolgreich wirkte.

 Selber hatte Heinrich keine Kinder. So adoptierte er den jüngsten Sohn seines Bruders Wilhelm, den 1935 geborenen Eberhard.

Eine Zwischenbilanz für die Peithmann-Familien im Osten, als der Zweite Weltkrieg ausbrach: zwei Familien in Schlesien und drei Brüder mit ihren Familien im nordöstlichen Mecklenburg.

 Schlesien und Mecklenburg: Was stand den Bewohnern hier und im übrigen Einflußbereich der Sowjetunion östlich der Elbe während und nach dem Zweiten Weltkrieg noch alles bevor?

 Trotz anfänglicher anders lautender Beteuerungen der nationasozialistischen Führung, die Hoffnungen auf Frieden erfüllten sich nicht. Auch im schlesischen Grenzvorwerk trafen immer mehr Briefe über Gefallene ein. Friedas Bruder Willi im Mittelabschnitt der Front in Rußland wurde seit dem Sommer 1944 vermißt. Ende des Jahres rückte die russische Front näher an den Ort, die ersten Flüchtlinge aus Litzmannstadt/Lodz zogen durch die Straßen. Dennoch: Weihnachten 1944 ahnte niemand in der Familie, daß es das letzte Fest in der Heimat sein sollte. Bald überschlugen sich die Ereignisse.

 Frieda schreibt: „Am 21. Januar haben dann auch wir Grenzvorwerk verlassen müssen. Es waren 16 Grad Kälte, und der Schnee knirschte unter unseren Füßen. Die Sonne ging im Osten über dem Wald auf und schien so rötlich. Ich habe mich noch oft umgedreht und sah, wie das Haus ruhig und friedlich dort stand, der Rodelschlitten neben der Treppe hochgestellt, die zurückgelassenen Tiere im Stall – ich habe diesen Anblick noch heute genau vor mir. Es war unvorstellbar, daß man das alles nicht wiedersehen sollte, … Bei all unserer Not und Verzweiflung hatte mein Vater seinen Bauernkalender mitgenommen und sehr knappe Eintragungen über den ganzen Fluchtweg gemacht. Es steht allerdings nichts davon drin, wie viele Tränen wir geweint haben.“

 Der Familienverband Peit(h)mann kann sich glücklich schätzen über dieses bedeutsame Dokument der Flucht in seinem Archiv.

 Hören wir, was der 65jährige Wilhelm Peithmann seinem Tagebuch unterwegs anvertraut hat.

Die Eintragungen beginnen mit dem 14. Januar. Bis zum 17. Januar deutet noch keine Angabe auf Flucht hin, wenn dort steht:

Hausarbeiten gemacht, der Franzose arbeitet im Walde, Rüben gepresst, Saft gekocht, Kleie geholt. Am 18. heißt es plötzlich: Alles spricht von Flucht. Nun im Wortlaut weiter:

19. Januar. Hausarbeiten gemacht. Beratung über das Abrücken. Sachen einpacken zur Flucht. Frieda und ich haben Sachen aus Rawitsch geholt.

Anmerkung: In diesem drei km entfernten Ort wohnte die seit 1940 mit dem Grenzbeamten Andreas Guggenberger verheiratete Tochter.

20. Januar. Weiter eingepackt und aufgeladen und den Wagen fertig gemacht.

21. Januar. Sonntag. Um ½  8 Uhr mit neun Wagen von Grenzvorwerk abgerückt und den Marsch ins Ungewisse angetreten bis sechs km vor Wohlau, dann Quartier.

22. Januar. Um ½ 9 Uhr weiter über Wohlau nach Leubus, dann weiter bis Parchwitz; bei ziemlicher Kälte mit den Kindern auf der Landstraße verbracht. Anmerkung: Friedas Söhne Manfred und Warmund waren ein und drei Jahre alt.

23. Januar. Um 9 Uhr weiter bei ziemlicher Glätte nach Koiskau Kr. Liegnitz; dort wurde für einige Tage Quartier bezogen. Die Menschen und Pferde waren total fertig.

24. Januar. Quartier in Ordnung gebracht. Wir liegen mit der Familie im Gasthaus. Alles wurde wieder aufgetaut, alle haben sich gut erholt.

25. Januar. Weiter im Quartier. Ich bin mit dem Rad nach Herzogswaldau gefahren und bin abends mit viel Mühe wieder in Koiskau angekommen. Schneefall. Anmerkung: Wilhelm Peithmanns Sohn Ludwig hatte 1941 Gerda Scholz in Herzogswaldau, Kreis Jauer, geheiratet, die dort mit ihren beiden Schwestern einen Bauernhof betreute.

26. Januar. Mutter, Frieda, die Kinder und ich sind um ½ 10 Uhr von Koiskau nach Herzogswaldau abgefahren; die Fahrt ging flott vonstatten; um ½ 2 Uhr waren wir in Herzogswaldau bei Scholz. Nachts Schneefall.

27. Januar. Große Militär- und Ziviltransporte ziehen hier vorbei. Bis in die Nacht dasselbe.

28. Januar. Wir sitzen hier im Quartier herum und warten der Dinge, die da kommen sollen.

29. Januar. Es ziehen immer noch Transporte, Militär und Zivil, nach Westen. Anmerkung: Also auf der Flucht vor der Roten Armee. Dann bis zum siebten Februar täglich ähnliche Eintragungen; immer wieder Militärtransporte.

1. Februar. Die Fuhren mit Flüchtlingen haben sich langsam verkleinert und kommen nur noch vereinzelt, dafür aber immer wieder Militärtransporte, Einquartierungen. Bei Tauwetter, Matschwetter, Nieselregen.

8.     Februar. Es ist alle Tage dasselbe Bild. Alle Abende Einquartierungen. Wildeste Gerüchte tauchen auf und verschwinden wieder.

9.     Februar. Immer dasselbe Bild. Großer Kraftwagenverkehr nach beiden Richtungen.

10. Februar. Am Tage schön. Minchen ist mittags mit Lastauto mit ihren Kindern nach Hirschberg abgefahren. Anmerkung: Gemeint ist die älteste Tochter Wilhelmine, verheiratet mit dem Landwirt Artur Scholz in Deutscheich, Kreis Militsch; sie hatte vier Kinder im Alter von ein bis elf Jahren.

11. Februar. Es wurde den ganzen Tag an Panzersperren gearbeitet. Hier bei  Scholz war heute Schweineschlachten.

12. Februar. Schwerer Artillerie-Kampf in der Nähe. Leider ziehen sich unsere Truppen anscheinend zurück.

Anmerkung: Dann geschieht, was alle befürchtet haben: Die Familie wird von den russischen Truppen überrollt. Wilhelms Eintrag:

13.2. Früh die russischen Tiere sind da. Das übrige läßt sich nicht schildern.

Anmerkung: Was Wilhelm sich hier nur anzudeuten getraut, hat seine Tochter Frieda klarer ausgesprochen:

„Bei dem 13. Februar möchte ich … noch einiges hinzufügen …

Die Russen waren fast immer betrunken oder sagen wir mal alkoholisiert. Sie haben sich alle wie Schweine benommen, wobei man bei diesem Vergleich die richtigen Schweine noch beleidigt. Es gab keine Ausnahme, auch hohe Offiziere waren nicht besser als ihre Mannschaften. Was die armen Frauen da alles durchgemacht haben, kann man wirklich nicht in Worte fassen.“

14.2. Schwere Einschläge im Dorf; die Russen ziehen sich zurück, eine ruhige Nacht.

15. Früh deutscher Panzer-Spähtrupp (Anmerkung: der die Bewohner und Flüchtlinge befreite). – Alles ist aus Herzogswaldau geflüchtet bis zum Dorf Knauer, Kreis Jauer. Von dort Weiterfahrt nach Ketschdorf bis in die Nacht hinein.

16. Abfahrt nach Marsdorf; hier liegen wir mit Soldaten zusammen im Quartier und werden aus der Feldküche verpflegt.

17. Sachen ausgepackt und instandgesetzt.

18. Im Quartier verbracht. Die vier jungen Frauen sind mit ihren Kindern nach Hirschberg gefahren. Mutter und ich sind allein.

 

Frieda ergänzt: Wir mußten uns leider von den Eltern trennen. In der Massenunterkunft mit den Soldaten ging das einfach nicht mehr. Die gaben sich große Mühe, unser bitteres Los ein bißchen zu verbessern. Aber sie konnten das ja gar nicht; wir waren schließlich nicht die einzigen Zivilisten.

(Anmerkung: Bei den vier Frauen handelte es sich außer Frieda um ihre Schwägerin Gerda geb. Scholz und um deren zwei Schwestern, allesamt mit kleinen Kindern. Sie fuhren von Märzdorf mit dem Zug in Richtung Bayern ab. Kamen dort aber nie an.)

 Wir verlassen einstweilen die vier Frauen und wenden uns wieder Wilhelms Tagebuch zu.

19.2. Den ganzen Tag nach Heu gesucht.

20.2.  Anmerkung: Offensichtlich vergeblich. Da kein Futter zu bekommen war, die Wagen keine Bremsen mehr hatten und die Pferde nicht mehr scharf beschlagen waren, heißt es am

21.2. Die Pferde verkauft und unsere Sachen eingepackt.

22.2. Die Soldaten haben uns mit Lkw nach Hirschberg gebracht, dort gestanden bis abends.

23.2. Bis Mittags auf ein Auto gewartet, dann mit Sonderzug von Hirschberg nach Polaun gefahren. Dort in Wind und Wetter im Dreck die ganze Nacht gefroren. Wetter: Trübe, leichter Schneefall.

24.2. In der Frühe eingeladen wie die Heringe und abgefahren im Schneckentempo über Tannwald bis Dux im Erzgebirge; dazu haben wir den ganzen Tag und die folgende Nacht gebraucht.

25.2. Früh in Dux angekommen. Ich habe unser Gepäck abgegeben und bin dann mit Mutter nach Komotau gefahren und von dort mit dem Zug nach Hof in Bayern.

26.2. Früh Weiterfahrt nach Plauen im Vogtland, dann Fußmarsch und Bahnfahrt nach Reichenbach und dann nach Leipzig, von dort nach Halle/Saale, übernachtet auf dem Bahnhof, Frost. Leipzig Sturmkeller.

27.2. Früh von Halle über Dessau und Zerbst nach Magdeburg (Sturmkeller), von dort Weiterfahrt nach Hannover (Sturmkeller) und nach Minden.

28.2. Früh ½ 4 Uhr in Unterlübbe angekommen und sind mit Freuden aufgenommen worden.

 Soweit das Tagebuch einer Flucht vor den Russen aus Schlesien – originale Worte zu Papier gebracht unterwegs in Not, Gefahr und Kälte. Wir hatten uns aus den Aufzeichnungen von Tochter Frieda ausgeblendet, wenngleich ihre Flucht und die ihrer Schwestern ungleich länger dauerte, erst in das Sudetenland und von dort wieder zurück nach Herzogswaldau führte, um erst Mitte August in Unterlübbe zu enden.

 Auch die Frotheimer Peithmanns in Stoschenhof hatten sich zusammen mit allen neun westdeutschen Siedlerfamilien auf die Flucht gemacht. Doch der mit Treckern und Pferden gemischte Treck  wurde auseinandergerissen, da die Traktoren stehenblieben, nachdem die Polen Sand ins Getriebe gestreut hatten.

 „Nun waren wir am Ende unserer Reise. Doch ging der Kampf ums Dasein von neuem los“. Das sind Frieda Peithmanns letzte Worte zu diesem Kapitel. Ihr und ihren Geschwistern gebührt Bewunderung dafür, daß sie auch nun mutig anpackten und sie alle im Westen neue Existenzen gründeten. Das gilt gleichfalls für die Kinder Ludwigs und Augusts im mecklenburgischen Bartelshagen und Bentwisch unter den schwierigeren Bedingungen der damaligen DDR.

 Ludwig hatte sich auch in Bartelshagen kirchlicher Arbeit zugewandt und war Mitglied in dem für diesen Ort zuständigen Kirchengemeinderat Kuhlrade. Seit 1952 gehörte er auch der Landessynode der ev.-luth. Landeskirche Mecklenburgs an. In seiner Zeit als Synodaler trat er als Prediger bei Evangelisationsveranstaltungen in verschiedenen Orten Mecklenburgs auf.

 Ludwig starb am 11. Mai 1957 plötzlich. Noch wenige Tage zuvor hatte er vom Präsidenten der Landessynode, Dr. Hachtmann aus Schwerin, einen Brief bekommen:

„Lieber Bruder Peithmann. Ich bitte Sie herzlich, auf der kommenden Tagung der Landessynode die Abendandacht am Mittwoch, 15. Mai, zu halten. Falls keine Antwort erfolgt, nehme ich an, daß Sie einverstanden sind.“

 Anstatt einer Antwort kam die Nachricht vom Ableben. Ludwigs Bruder August in Bentwisch war bereits 1943 gestorben.

 Ende der 1950er Jahre wurden die beiden Peithmann-Höfe im nordöstlichen Mecklenburg in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften überführt. Nun waren Wilhelm in Bartelshagen und Augusts Sohn Herbert in Bentwisch als sogenannte Genossenschaftsbauern tätig.

 Auch Ludwigs jüngster Sohn Adolf hatte in Dolgen bei Güstrow einen landwirtschaftlichen Betrieb gepachtet. Ihm wurden „republikfeindliche“ Äußerungen zum Verhängnis, die er im Zusammenhang mit der Zwangskollektivierung machte. Nachdem man ihn angezeigt hatte, wurde er noch am selben Abend eingesperrt und am anderen Morgen angeklagt. Das Urteil lautete: Vermögensentzug und fünf Jahre Zuchthaus. Ein guter Rechtsanwalt konnte das Strafmaß auf zwei Jahre verringern, wovon er 1958-1960 anderthalb Jahre absaß, einen Teil als politischer Gefangener in Güstrow, den anderen als Zwangsarbeiter in der Ziegelei Mallis bei Ludwigslust. Je ein Vierteljahr wurde ihm erlassen aufgrund von Arbeitsleistung und Bewährung. Wenn es bei seiner Entlassung ausdrücklich hieß, das Ziel der sozialistischen Umerziehung sei erreicht, dann haben sie unseren lieben Adolf Peithmann nicht einmal richtig angeschaut, geschweige denn durchschaut.

 Seit der politischen Wende 1990 sind die Ländereien der Höfe in Bartelshagen und Bentwisch an Agrargenossenschaften verpachtet.

 Wer vor Rostock von der Autobahn abbiegt und die viel befahrene Bundesstraße in Richtung Rügen fährt, wird in Bentwisch auf ein großes Firmenschild aufmerksam: Harrys Abschleppdienst. Dahinter verbirgt sich der Name Harald Peithmann, nunmehr schon der Enkel von August, der – in Wulferdingsen geboren – einst als Bauer von Bischofsee in Posen nach Bentwisch kam.

 Gutsbesitzer Heinrich Peithmann in Petersdorf war enteignet worden, da sein Besitz mehr als 100 ha umfaßte. Aufgrund des stets guten Verhältnisses zu seinen Fremdarbeitern, hatte er von diesen beim Einmarsch der Russen im Frühjahr 1945 nichts zu befürchten. Heinrich mußte im Herbst seinen Hof verlassen und wurde in ein Lager in Thüringen gebracht. Seine Frau verblieb mit dem Adoptivsohn Eberhard auf der 30 Morgen großen Büttnerei, die er auf den Namen seines Neffen aus Wulferdingsen gekauft hatte und nicht enteignet wurde. Heinrich konnte aus dem Gefangenenlager fliehen und kehrte nach Wulferdingsen zurück. In Bröderhausen, wohin auch Frau und Sohn nachkamen, begann er wieder einen Viehhandel.

 Schließlich der Blick auf die Angehörigen des Frotheimer Zweiges. Minna Peithmann, deren Mann Wilhelm Picker seit 1939 bei Witebsk vermißt wurde, zog mit ihren drei Kindern nach Isenstedt im Altkreis Lübbecke. Auf dem dortigen Hof Witte war der angehende Bauer 1937 tödlich verunglückt. Weitere Erben gab es nicht. Da Minnas Schwiegermutter eine geborene Witte war und sie selber zudem auf diesem Hof als Landjahrmädchen gedient hatte, wurde ihrem Sohn Erhard das Anwesen übertragen. Dieser nahm den Namen Witte an.

 Damit sind wir auf allen drei Familienzweigen „Unterlübbe“, „Wulferdingsen“ und „Frotheim“ jenen Spuren bis in die Gegenwart gefolgt, die in den Osten geführt haben. Neben den schon erwähnten Verwandten, die schriftliche Quellen hinterließen, wären noch viele weitere Informanten aufzuführen. Stellvertretend nenne ich Marianne in Wimmer, verheiratet mit dem in Gontsch geborenen Hermann Peithmann, und Heinrich Peithmann (1912-1991) in Rostock, ältester Sohn von Ludwig in Bartelshagen. Auf Mariannes Arbeiten über den Unterlübber Zweig habe ich mich ebenso gestützt wie auf Heinrichs umfassendes Datenwerk der Peit(h)mann-Nachfahren und seine Darstellung des Wulferdingser Peithmann-Zweiges.

 Heinrich besuchte 1980 in seinem Geburtsort Wagenau in der ehemaligen Provinz Posen den elterlichen Hof. Die Hofstätte hatte sich in all den Jahrzehnten nicht verändert. Eine 1920 von ihm mit gepflanzte Obstanlage und der alte Hofzaun waren verschwunden. Die Ackerflächen schienen in einem annehmbaren Zustand. Im Dorf Wagenau konnte Heinrich außer dem Bau einer Volksschule keine baulichen Veränderungen erkennen. Der ehemalige Friedhof war eingeebnet und als Acker hergerichtet.

 Und dann die Begegnung mit den Menschen: Die Besitzerfrau, die gut deutsch sprach, zeigte sich sehr aufgeschlossen. Besonders herzlich war das Zusammentreffen mit den damaligen Nachbarn nach 56 Jahren. Sie konnten sich noch gut an die Mitglieder der Peithmann-Familie und an viele Begebenheiten erinnern. Weder der zeitliche Abstand noch die Jahrzehnte der Trennung mit staatlich verordneter Feindschaft und Krieg haben das Band der Nachbarschaft zwischen Angehörigen polnischer und deutscher Nationalität lösen können.

 So sind wir in diesem Vortrag zur ersten Station unserer einst im Osten siedelnden Peithmann-Familien zurückgekehrt – in die alte Provinz Posen, von wo aus für die Verwandten ein Weg harter Arbeit und Entbehrungen begann, für die meisten auch ein Weg schrecklicher Erlebnisse und Leiden, ein Weg, der dann dennoch mit Mut und Tatkraft weitergegangen wurde.

 Wir haben Mitglieder unserer Familien zu Wort kommen lassen über das, was sie in schlimmer Zeit erlebten und empfanden.

 Der von Hitler begonnene und von den Ideologien des Nationalsozialismus und des Stalinismus getragene Krieg stürzte viele Völker in millionenfaches Leid und führte das deutsche Volk in die Katastrophe.

 Heute, in einem freien Europa, muß es der Erlebnisgeneration auf allen Seiten möglich sein, offen über das gegenseitig angetane Leid zu sprechen – ohne aufzurechnen.

 Kürzlich unterhielt ich mich mit einem Peithmann-Verwandten, der der Enkel- und Urenkel-Generation unserer aus Posen und Schlesien Vertriebenen angehört. Er ist Offizier in der Bundesmarine und berichtete von seiner Teilnahme an gemeinsamen NATO-Manövern im Ostseeraum, von Flottenbesuchen im heute polnischen Stettin und vom freundschaftlichen Umgang mit den polnischen Kameraden – ohne jegliche Vorbehalte, aber auch nicht überschwänglich, sondern ganz normal.

Meilensteine einer Entwicklung zwischen unseren beiden Nachbarvölkern – Meilensteine eines langen Weges, auf dem deutsche Familien Peithmann mit- gegangen sind.

 

 Wilhelm Meier-Peithmann